Süddeutsche Zeitung

Lebenskünstler aus Tutzing:"Wir wollten nicht nur existieren, wir wollten leben"

Lothar Böhmert war als Kellner des Midgardhauses eine Institution, mit der Variete-Show "Pomp, Duck and Circumstance" tourte er durch die Welt. Nach Krankheit und Corona-Krise droht dem 75-Jährigen nun die Obdachlosigkeit.

Von Manuela Warkocz

Davon träumen viele: den Sommer am Starnberger See genießen und es sich im Winter an einem Strand in Goa gut gehen lassen. Diese Vision lebte Lothar Böhmert jahrelang. Als Kellner bewirtete er im Sommer im Midgardhaus bei Fritz Häring prominente Gäste; zuletzt, als die Beine schwerer wurden, saß er an der Kasse im Biergarten - immer gut gelaunt wurde "der Lothar" vielen Stammgästen bekannt. Jeden Oktober packte er seit 2005 den Koffer und überwinterte in einer kleinen Bleibe im Norden Goas am Calangute Beach - sonnig, kostengünstig, mit indischen Freunden und gleichgesinnten Bekannten aus Österreich und Deutschland.

Corona hat den 75-Jährigen jetzt aus der Bahn geworfen. Seit einem Jahr ist Lothar Böhmert in Tutzing gestrandet - so gut wie pleite, gesundheitlich angeschlagen. Aber als einer, der in seinem wechselvollen Leben immer wieder auf die Füße fiel, voller Optimismus. Im April will er wieder nach Indien. "Kommen Sie zum Tutzinger Hof, da können wir quatschen", stimmt er am Telefon einem Gespräch sofort zu. Vor dem Hotel, in dem ihm Familie Gsinn derzeit Unterschlupf gewährt, fängt er einen in der Sonne ab. Ein massiger Mann, 1,90 Meter groß, graue Strähnen bis zur Schulter, buschige Augenbrauen, sonderbares Outfit - sandfarbenes Sakko mit Goldknöpfen, schwarze Samthose, schwere Bergstiefel. "Lassen Sie uns auf eine Bank gehen, zu stickig da drin", sagt er und schleppt sich in kleinen Schritten 50 Meter bis zu einer Sitzgelegenheit.

Dabei erzählt er von der schweren Thrombose, die ihn im Januar 2020 fast erledigt hätte. Wäre nicht die fürsorgliche Behandlung in einer Klinik in Goa gewesen. "Super, nur 15 Euro das Zimmer, und meine indischen Freunde haben mich großartig mit Essen versorgt", wie es in indischen Krankenhäusern so üblich sei.

Auf der Bank holt Böhmert Zeitungsartikel und großformatige Bilder aus einer Klarsichthülle. Zeugnisse seiner schillernden Biografie. Er wird 1945, kurz nach dem Krieg, im zerbombten Berlin geboren. Abitur macht er an einem humanistischen Gymnasium, danach geht er zur Ausbildung in ein Notariat. "Der Notar wollte, dass ich Jura studiere und die Kanzlei übernehme. Aber das war mir zu negativ, man ist da ja auf Mandanten angewiesen." Sein Credo: "Ich brauche nicht studieren, bin kein Dogmatiker, sondern Kosmopolit."

Mit seiner Frau, einer Völkerkundlerin, reist er nach Mexiko und 1980 das erste Mal nach Indien, dann immer wieder. Goa, das war damals internationaler Hippie-Treffpunkt, Strände wie Palolem waren weltweit bekannt. In Deutschland steigt Böhmert in die Gastronomie ein, wird Geschäftsführer eines Münchner Restaurants, vertreibt global Bio-Schokofrüchte. Als 1990 seine Frau an Krebs stirbt, fällt er in ein tiefes Loch - "ich wollte am liebsten mit ihr sterben." Er lernt Fritz Häring kennen, der gerade das Midgardhaus übernommen hatte. Häring bietet ihm einen Job an, "um unter die Leute zu kommen". Kein Problem. "Bier gezapft hab ich schon als Jugendlicher in einer Berliner Eckkneipe." Beim Häring, wo sich die Prominenz die Klinke in die Hand gab, hat er Marianne Sägebrecht als "besonders Nette" in Erinnerung, Gunter Gabriel signierte ein Foto "Für den schärfsten Cowboy vom Starnberger See", weil er immer einen indischen Hut im Cowboy-Stil trug.

Über Häring gelangt er ins Showbusiness, wird Conferencier bei "Pomp, Duck and Circumstance". Tourt mit der Varieté-Produktion durch die Welt. "München, Spiegelpalast in Berlin, Broadway - ich hab Champagner am Empfang verkauft, Besenbass gespielt, die Leute sind ausgeflippt." Diana Ross kommt auf die Bühne, Larry Hagman lässt sich mit ihm fotografieren. Für Christiane Herzog, Frau des früheren Bundespräsidenten, moderiert er eine Mukoviszidose-Gala. Bis die Show 1996 pleite ist. Aus Atlanta kommt er mit einem Koffer und 300 Dollar zurück.

Ähnlich am Boden ist er heute. Sein Touristen-Visum war vor einem Jahr ausgelaufen, er musste am 2. März Indien verlassen. Der Lockdown in Indien verhinderte die Wiedereinreise. Arbeit im Midgardhaus gab's diesen Sommer nicht, der neue Wirt lehnte ihn ab. Seit drei Monaten kommen nicht mal mehr seine 770 Euro Rente aufs Konto - "keine Ahnung, bei der Behörde erwischte ja keinen". Krankenversicherung? Fehlanzeige.

Wie er Geld für ein Ticket zusammenkratzt, weiß er nicht. Geld sei ihm halt nie wichtig gewesen. "Wir wollten nicht nur existieren, wir wollten leben", sagt er achselzuckend. Der Traum vom guten Leben am Starnberger See und in Goa - für Lothar Böhmert könnte er zum Albtraum der Obdachlosigkeit werden.

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Quelle:
SZ vom 02.03.2021
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