Süddeutsche Zeitung

Wohnungsnot:"Die Lage ist dramatisch"

Wegen Inflation, Flucht und Zuzug spitzt sich die Lage auf dem ohnehin angespannten Wohnungsmarkt im Landkreis Starnberg noch einmal zu. Die Not erreicht zunehmend auch die Mittelschicht. 2021 sind 66 Sozialwohnungen freigeworden - bei 1000 Bewerbern.

Von Viktoria Spinrad

Da ist der Handwerker, der seine Wohnung wegen Streitereien mit den Nachbarn aufgegeben hat und nicht wusste, wohin mit sich. Die Frau, deren Mutter gestorben ist und die nun alleine in einer Vier-Zimmer-Wohnung sitzt, die sie sich nicht leisten kann. Der Alleinerziehende mit zwei Kindern, dem der befristete Mietvertrag nach drei Jahren nicht mehr verlängert wurde.

Drei Einzelfälle eines Phänomens, das sich im genauso beliebten wie teuren Landkreis Starnberg immer mehr zuspitzt: Obwohl der Landkreis mit seinem eigenen Wohnverband beständig neue bezahlbare Wohnungen zu schaffen versucht, wird die Zahl der Menschen, die keine bezahlbare Wohnung mehr finden, zunehmend größer. Was mal als Problem von Drogenabhängigen, psychisch labilen Menschen und Leuten ohne deutschen Namen im Pass galt, weitet sich immer mehr in die Mittelschicht aus. Friseure, Verkäuferinnen, der Busfahrer von nebenan.

650 Bewerber standen Anfang des Jahres auf der Warteliste für eine Sozialwohnung

Corona, der Krieg in der Ukraine, Inflation, Leerstand, Airbnb, Spekulation und Investoren, die sich hohe Renditen vom Luxussegment versprechen. All dies kulminiert in teils exorbitanten Mieten - und langen Wartelisten für eine der über 2000 öffentlich geförderten Wohnungen im Landkreis. Im Landratsamt gehen unzählige Anträge ein. Allein 2021 bewarben sich 1000 Familien auf eine Berechtigung. Zu vergeben waren 66 Wohnungen - also bekam nur jeder 15. Bewerber eine. Am Ende des Jahres standen noch immer 650 auf der Warteliste. Julia Schmidbauer, Sozialpädagogin im Herrschinger Rathaus, sagt: "Die Lage ist dramatisch."

Die Situation treibt auch Landrat Stefan Frey (CSU) um - zumal seit der Ankunft ukrainischer Kriegsflüchtlinge plötzlich überraschend viel freier Wohnraum bereitgestellt wurde. Diesen, sagt er, "bräuchten wir dringend auch weiterhin für Menschen, die bei uns im Landkreis dauerhaft leben und arbeiten wollen". Es pressiert, zumal es dem Vernehmen nach immer mehr Eigenbedarfskündigungen gibt. Auch die Quote der Zwangsräumungen ist leicht angestiegen: 26 Personen oder Familien wurden 2021 aus ihrer Wohnung geklagt.

In solchen Fällen ist Hannelore Breiter in der Leutstettener Straße 28 in Starnberg oft erste Anlaufstelle. Die Sozialpädagogin arbeitet bei der Caritas in der Fachberatungsstelle zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit im Landkreis. Das Büro ist bescheiden eingerichtet, auch die Caritas muss sparen. Wo Reichtum ist, sagt sie, gebe es eben auch eine Kehrseite. Menschen, die verdrängen, Briefe nicht aufmachen, Mietschulden anhäufen. Anerkannte Geflüchtete, die als Fehlbeleger weiter in den Asylunterkünften leben. Aber eben auch die Mittelschicht. Der Handwerker, die überforderte Tochter, der gekündigte Alleinerziehende - alles Menschen, die sich an sie gewandt haben. Oft wird sie dann zur Vermittlerin.

Steckte ein persönlicher Zwist hinter der Kündigung? War diese rechtens? Hätte die Familie Anspruch auf Rechtshilfe? Würde das Landratsamt bei Miet- oder Energiekosten aushelfen? Gäbe es Anspruch auf eine Sozialwohnung? Braucht es Tipps für die Besichtigung? 92 Klienten hatte sie heuer bisher. Vielen kann sie so helfen.

Prävention ist nicht nur humaner, sondern auch günstiger als eine Obdachlosenunterkunft

800 Meter nördlich vom Caritas-Büro liegt ein weiteres Element des sozialen Fangnetzes: der Fachbereich 22, das Sozialwesen im Landratsamt. Hier können Menschen einen Antrag auf Mietschuldenübernahme stellen. Der zugehörige Sozialbericht liest sich wie eine Bankrotterklärung an das bezahlbare Wohnen. Die Wohnsituation vieler Leistungsberechtigter werde geprägt durch "unzureichenden Wohnraum, unangemessen hohe Mieten, Miet- und Energieschulden und Schwierigkeiten mit dem Vermieter und der Hausgemeinschaft". Hierbei könnten Miet- und Energieschulden "zum Verlust der Wohnung, zum sozialen Abstieg und zu Obdachlosigkeit führen".

Insgesamt 14 311 Euro hat das Landratsamt im vergangenen Jahr an Miet- und Energieschulden für Menschen in Not bezahlt, seit Corona steigt die Zahl wieder. Dass Prävention nicht zuletzt günstiger ist als obdachlos gewordene Menschen in Notunterkünften unterzubringen, ist bekannt.

Im Landratsamt ist es nicht weit zum nächsten Glied der Präventionskette. Fachbereich 42, Wohnraumförderung. Hier sitzt Annett Höltershinken. Ihre Abteilung hat dieser Tage allerhand zu tun. Viele hoffen auf einen der begehrten Wohnberechtigungsscheine, also den Anspruch auf eine sozial geförderte Wohnung. Dafür zählt das Einkommen. Für einen Ein-Personen-Haushalt liegt die Schwelle bei 14 000 Euro, bei zwei Personen bei 18 300 Euro, für drei Personen bei 22 600 Euro Jahreseinkommen.

Demgegenüber stehen viele Leute, die "in eine soziale Schieflage kommen", wie es Höltershinken formuliert. Die 1000 Anträge für 66 Wohnungen, die schlussendlich frei wurden, sind durch ihre Abteilung gegangen, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Menschen nach einem Jahr stets einen neuen Antrag stellen müssen - ein Bürokratiemonster. Eine Chance haben ohnehin nur die, die bei ihr am Ende in Kategorie 1 landen: sehr dringlich. Wer beispielsweise obdachlos ist, alleinerziehend und ohne eigene Wohnung dasteht, kommt in die erste Stufe. Wer wenig verdient und gerne in den Landkreis ziehen würde, in die dritte. "Im Landkreis gibt es selber genug Leute, die suchen", sagt Höltershinken.

Wer einmal in einer Sozialwohnung sitzt, bleibt meist auf viele Jahre

Das Problem: Auf dem sozialen Wohnungsmarkt gibt es kaum Bewegung. Auch, weil der Anspruch bei der Bewerbung geprüft wird, danach kaum mehr. Was dazu führt, dass in Sozialwohnungen viele Menschen leben, die eigentlich gar nicht mehr berechtigt wären. "Die Gesetzeslage ist aber so", sagt Höltershinken.

Nur wer andernfalls auf der Straße säße, landet in einer Notunterkunft. Zum Beispiel 15 Kilometer westlich vom Landratsamt, in der Gewerbestraße 78 in Herrsching. Pünktlich zum Herbst hat hier eine 930 000 Euro teure Obdachlosenbleibe eröffnet. Es sind karge Räume mit einfachen Stockbetten. Aber immerhin muss hier keiner frieren. Es sei auch kein Mietwohnraum, betont die Herrschinger Sozialpädagogin Julia Schmidbauer. Die Räume sind nur für die kurzfristige Unterbringung gedacht.

Zurück in Starnberg, Bahnhofplatz 2b. Ein schlammiger Weg, der zu einem Container führt. Tische mit blauem Wachstuch, eine Küchenzeile, eine alte hölzerne Schrankwand. Wer trotz allem auf der Straße landet und keinen festen Wohnsitz hat, findet hier bei Simone Christenn eine warme Stube und warme Worte. Erstberatung, Wohngeld, Sozialwohnungen - seit 25 Jahren hilft die Sozialpädagogin Obdachlosen, in einem Container, der 1997 aus Leserspenden an den SZ-Adventskalender ermöglicht wurde. Es werde anonymer untereinander, sagt sie. Die Quote der Volltrunkenen sinke, so ihre Beobachtung. "Die psychischen Erkranken nehmen zu."

Das Thema mag runterziehen. Doch gibt es Momente, die zeigen, dass sich manche Mühen lohnen. Anfang des Jahres, schildert Christenn, die sich auch um die Unterbringung von Gilchingern kümmert, habe ein Mann "eine wunderschöne Sozialwohnung" bei der Wohngenossenschaft Fünfseenland erhalten. Er richte sich gerade ein, sagt sie.

15 Fußminuten nordwärts hat auch Hannelore Breiter von der Caritas gute Nachrichten. Nachdem sie dem Handwerker ein paar Tipps für eine Besichtigung gegeben hatte - Smalltalk, Hilfe anbieten - bekam er eine neue Wohnung. Und der befristete Mietvertrag des Alleinerziehenden mit den zwei Kindern entpuppte sich als nicht rechtens. Er konnte bleiben. "Es lohnt sich", sagt sie.

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