Süddeutsche Zeitung

Kultur:Poetische Seelenmassage

Das Gautinger Bosco entflieht dem Lockdown mit Musik und Lyrik per Liveübertragung

Von Reinhard Palmer, Gauting

Gerade für die Vertreter der klassischen Genres, die sonst in absoluter Stille und Konzentration ihre Kunst zum Besten geben, dürfte dieser Livestream eine besondere Herausforderung sein, kann doch das geschäftige Tun der Technik-Crew während des Auftritts schon sehr irritieren. Fürs Gautinger Bosco eine nicht weniger ungewohnte Situation, statt Konzertsaal ein Aufnahmestudio zu sein. Schaut man sich das Ergebnis des Gauting.live-Livestreams an, so staunt man über die einwandfreie Bild- und Tonqualität, zumal trotz der recht schnellen Umsetzung des ehrgeizigen Projekts.

Am vergangenen Freitagabend standen neben einem Gespräch des Mitinitiators Stefan Berchtold mit dem um Kultur und Bürgergemeinsinn bemühten Gautinger Grünen Hans Wilhelm Knape zwei Auftritte mit literarisch-poetischem Hintergrund auf dem Programm, was sich in den aktuell von der Sachlichkeit der pandemischen Ereignisse bestimmten Zeit als eine wahre Seelenmassage erwies. "Lasst uns träumen . . ." betitelte das Trio Halina Bertram (Klavier), Gisela Auspurg (Violoncello) und Ernst Matthias Friedrich (Sprecher) ihr keinesfalls nur romantisierendes Programm, auch wenn Friedrich mit Eichendorffs "Wünschelrute" in die Welt der Träume entführte: "Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort." Doch schon die sehnsuchtsvoll-melancholische "Legende" des russisch-israelischen Komponisten Joachim Stutschewsky weitete den Horizont. Was aus Kafkas "Die Verwandlung" sogleich zu hören war, hätte eher als ein Albtraum bezeichnet werden können.

Aber Gregor Samsa, der sich in einen Käfer verwandelt hatte, nahm alles recht gelassen: "Was ist mit mir geschehen?, dachte er. Es war kein Traum". Nur gut, dass dazu von Debussy die spröde "Sérénade" erklang und keine magischen Stimmungsbilder des Impressionisten. Sogar Zettels Wunschtraum aus "Ein Sommernachtstraum" von Shakespeare stimmte in dem Kontext ins Surreale ein, was H. C. Artmanns Träume 88 und 89 ins geradezu Groteske der Anlage eines Rosengartens in der Meerestiefe und der kuriosen Vorstellung, man werde vom Tod geholt, und hat gerade keine Hose an, nochmals dadaistisch steigerten. Tiefgeistiges von Hannah Arendt - "verlorene Einsamkeiten beginnen zu tanzen" - beantworteten die Musikerinnen mit Leoš Janáčeks nostalgisch sinnierendem "Ein verwehtes Blatt". "Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus", hieß es in "Mondnacht" von Eichendorff, dessen empfindsame Lyrik Schumanns langsamer Satz aus "Stücke im Volkston" fortspann. Zum Abschluss sollte aber ein visionärer Traum ins Diesseits zurückholen. Die junge schwarze Dichterin Amanda Gorman, die schon bei Präsident Bidens Vereidigung für Schlagzeilen sorgte, entwarf einen Traum, der lange als verloren galt: "Wir suchen Eintracht für alle".

Das Programm "Cuentos del sur", das Flamenco-Gitarrist, Sänger und Rezitator Ricardo Volkert mit dem Cellisten Jost-H. Hecker im zweiten Act gab, war nicht minder poetisch. Die hochemotionale spanische und lateinamerikanische Lyrik ist schon an sich reinste Musik. Das Duo vermochte diese fliegende Rhetorik mit Leidenschaft, bisweilen Temperament in eine melancholisch deklamierende Musiksprache zu übersetzen. Ob Federico Garcia Lorcas "Romance sonámbulo" aus der Sammlung "Romancero Gitano", Rafael Albertis "Huerta del mar" (Gemüsegarten des Meeres) - zufällige Parallele zu Artmanns Traum 88 - aus "Marinero en tierra" oder "Invocación" des Chilenen Pablo Neruda: Die musikalische Variante der Gedichte gewann an Tragweite, schwebend über temperamentvollen Rhythmen und inbrünstigen Melodien. Ein Violoncello ist nicht gerade ein typisches Flamenco-Instrument neben der dominierenden Gitarre, doch die Melancholie seines Klangs vermochten den poetischen Gehalt zu steigern und für seine tagträumerischen Visionen ein farbenreiches Szenario hinterlegen. Magie war dem Abend jedenfalls sicher.

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SZ vom 08.03.2021
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