Von 100 Jahre alten Prinzessinnen, verworrenen Liebesschwüren, Widerstandskämpfern gegen das Nazi-Regime und hoffnungsvollen Lichtgestalten, die uns überall begegnen können: Der literarische Herbst ist bereits voll im Gange. Die Veranstaltungsreihe startete am Mittwoch direkt ins Weltall. In der mystischen Atmosphäre des Industriedenkmals Radom bei Rasting wird der literarische Bogen bis hin zum Mond gespannt.
Durch die Erdfunkanlage konnten bewegende Momente erstmals live in die ganze Welt übertragen werden, unter anderem auch die Mondlandung 1969. Erbaut wurde das Radom einst im Auftrag der Deutschen Bundespost - eine "Kathedrale der Moderne", sagt Kulturmanagerin Elisabeth Carr, die erneut die künstlerische Leitung des literarischen Herbsts innehat. Abgesehen von der Lesung mit Gedichten über den Mond wird bei der Veranstaltung im Radom auch ein Film gezeigt, in dem unter anderem die "I have a dream"-Rede von Martin Luther King eine wichtige Rolle spielt.
Das diesjährige Programm zielt von vorne bis hinten darauf ab, ein "Hoffnungszeichen" zu setzten, sagt Carr. Gerade in Zeiten von verschiedenen Krisen sei es wichtig, sich nicht auf die negativen, sondern die positiven Aspekte zu fokussieren. "Wir verfolgen den utopischen Entwurf, dass Kultur kein soziales Sahnehäubchen ist." Es sei wichtig, Kultur für alle zugänglich zu machen und in einer menschlichen Tonlage zu präsentieren, so Carr. "Vor allem wollen wir keine Ausgrenzung schaffen."
Schriftsteller Gerd Holzheimer, künstlerischer Leiter und Gründer des literarischen Herbsts, sagt, für ihn ist seine seit 21 Jahren laufende Veranstaltungsreihe ein "kulturelles Erntedankfest". Es ginge um die Würdigung der Kultur im Fünfseenland - und das traditionell an ungewöhnlichen Orten. "Wir haben das Glück großer Kontinuität", sagt Holzheimer, "und auch das Glück, dass uns immer wieder neue Orte die Türen öffnen." Es sei erstaunlich, wie oft sie schon gedacht haben, dass es jetzt keine neuen Ideen mehr geben könne - und dann lag am Ende doch jedes Jahr aufs Neue ein frisches Programm auf dem Tisch.
Eine Liebesgeschichte: Eine Lesung aus alten Briefen bis zur Hochzeit
Ein romantischer Fund aus dem Nachlass des Sammlers Hermann Geiger öffnete genau eine solche Tür: Ein junger Arbeiter aus der Papierfabrik in Gauting schaltete auf der Suche nach einer Liebhaberin in den 1950er-Jahren eine Anzeige in der Süddeutschen Zeitung. Josefine, ein Hausmädchen, antwortete ihm auf die Annonce. Es kam zu einem regen, lang anhaltenden Briefaustausch. Knapp 70 Jahre später werden nun zwei Jahre des Pärchens bis zur Hochzeit am Samstag, 14. Oktober, durch Verlesen des Briefwechsels wiederbelebt. Ort des Geschehens sind die Relikte, die von der größtenteils abgerissenen Papierfabrik übrig geblieben sind. Die Räume dienen Stefan Fichert als Atelier, der Künstler wird für Neugierige diesen Samstag wortwörtlich die Türen öffnen.
In der Rolle der Enkelin wird Manuela Pecoraro die nächste Tür des Kulturherbsts öffnen. Pecoraro wird einen mysteriösen Koffer bei sich haben, in dem einige Funde - Bücher, Fotos und andere Stücke - aus dem Nachlass ihres Großvaters Ernst Heimeran aufbewahrt werden. Der bekannte Verleger, Schriftsteller, Musiker und Redakteur wurde 1933 wegen "politischer Unzuverlässigkeit" von den Nationalsozialisten als Redakteur der Münchener Neuesten Nachrichten entlassen. Doch durch seinen Verlag und "unschuldige Bücher" wie Rezeptsammlungen konnten er und seine Familie die NS-Zeit überstehen, sagt Holzheimer. Zu seinen Ehren tritt die Enkelin Heimerans am Sonntag, 12. November, auch selbst auf. Der Ort des Geschehens kann nicht sein früheres Wohnhaus in Starnberg sein, dieses wurde längst abgerissen. Stattdessen soll es sich um eine schöne Location ganz in der Nähe handeln.
Tür zu, nächste auf: Prinzessin Irmingard von Bayern wäre dieses Jahr 100 Jahre alt geworden. Auf Drängen ihres Sohnes schrieb sie das Buch "Jugenderinnerungen". Ihre große Liebe zur Natur, zu Menschen und Tieren war wahrscheinlich einer der Gründe dafür, der sie die schrecklichen Tage in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Flossenbürg und Dachau überstehen ließen. Sie war zu Beginn ihrer KZ-Inhaftierung gerade mal 19 Jahre alt. Das Buch handelt von "Metaphern des Ausgeliefertseins menschlicher Existenz an bedrohliche und unsichtbare Gewalten", heißt es im Programm des literarischen Herbsts. Neben Textauszügen gibt es auch einige ihrer Malereien zu begutachten. Veranstaltungsort am Donnerstag, 23. November, ist das Museum Starnberger See, das die Prinzessin in der Vergangenheit schon einmal mit einer Ausstellung geehrt hat.
Die letzten verwelkten Blätter fallen am Dienstag, 28. November, in der Buchdruckerei des Land- und Seeboten zu Boden: Das Finale des diesjährigen literarischen Herbsts ehrt den Heimatdichter Georg Queri und den Journalisten und Nazi-Gegner Otto Michael Knab. Queri hatte es sich zur Aufgabe gemacht, nach dem Ersten Weltkrieg die politischen Zustände offen zu benennen und einzuordnen. Ähnliches vollbrachte Knab im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs: Er veröffentlichte 1934 aus dem Exil in der Schweiz heraus das Buch "Kleinstadt unterm Hakenkreuz - Groteske Erinnerungen aus Bayern". Er bilde somit auch eine Hoffnungsfigur, welche die Zustände klar benannte und sich auch im Exil um ihre Heimat Starnberg bemüht hat, sagt Carr.
Das gesamte Programm des literarischen Herbstes findet sich online unter: https://kunstraeume-am-see.de/veranstaltungen/literarischer-herbst/