Süddeutsche Zeitung

Kultur in der Corona-Krise:Wunschkonzert am Gartenzaun

Die Akkordeonistin Annette Rießner spielt neuerdings vor ihrem Haus in Dießen für Publikum - das sich das Programm selbst aussuchen darf.

Von Patrizia Steipe

Sie sind ein Phänomen der Corona-Zeit - die Balkon-, Garten- und Hofkonzerte, mit denen Künstler ihr Bedürfnis, vor Publikum zu spielen, ein wenig befriedigen können. Für die hauptberufliche Akkordeonistin Annette Rießner ist es auch eine Möglichkeit, dass ein bisschen Geld in die Kasse kommt, denn seit Mitte März sind all ihre Konzerte abgesagt. Für die Gartenzaunkonzerte vor ihrem Haus in der Lommelstraße 5 in Dießen hat sie eine Art "Juke-Box" entwickelt. Dabei können sich die Zaungäste aus dem Repertoire ein Stück aussuchen und dafür Geld in eine Box legen. Seit dem Lockdown sitzt sie täglich um 18 Uhr hinter dem Zaun und wartet auf Publikum. "Bisher ist noch kein Konzert ausgefallen", erzählt sie. Einmal hat sie für einen einzigen Gast aus Wörthsee gespielt, doch an diesem Abend haben sich etwa zehn Musikfreunde auf der Straße eingefunden. Die Vorfreude ist allen ins Gesicht geschrieben. "So eine tolle Idee", schwärmt Brigitte Lingnau. "Man sieht wieder Leute - herrlich", stimmt ein anderer zu.

An diesem Abend tritt Rießner im Duett auf. Johannes Sift aus Dießen sitzt mit seiner Diatonischen Harmonika, der "Ziach", neben ihr im Garten. Die beiden Musiker wollten im März miteinander auftreten, jetzt nehmen sie mit der Ausweichvariante im Garten vorlieb. Der gemeinsame Auftritt zwischen dem Volksmusiker und der klassischen Akkordeonistin ist ein Experiment. "Wir haben überlegt, wo wir uns musikalisch treffen könnten und dann in unseren Notenregalen gekramt", berichtet Rießner. Herausgekommen ist eine Mischung aus schwungvollen Tanzliedern, die dem Publikum so gut gefallen, dass alle vier Lieder, die zur Auswahl stehen, bestellt werden. Zum Beispiel die beiden Tänze aus dem Notenbuch von Anna Maria Leyrsederin. Die Stücke aus dem 18. Jahrhundert könne man als Vorläufer unserer heutigen Volksmusik bezeichnen, informiert Sift, der auch als Deutschlehrer in Landsberg tätig ist. Es sind fröhliche Klänge, in die sich das Gezwitscher der Amseln mischt. Beim Publikum wippen die Füße, während der Blick über reifende Johannisbeeren, üppige Akeleien und zwei balgende Kinder im Gartentrampolin wandert. Ein Kleinbus fährt am Zaun vorbei und unterbricht den Blickkontakt. Zum Glück ist es ein leises E-Fahrzeug, so dass die Musiker einfach weiterspielen können.

"Schnulzig" sei das nächste Stück, erklärt Rießner. Abwertend ist das nicht gedacht, den zeitgenössischen Komponisten Vincenzo de Filippo habe sie während eines Workshops für Musiker in Rom kennengelernt. "Ziach" und Akkordeon gelingt es die sehnsuchtsvolle Melodie, die an argentinischen Tango erinnert, zu interpretieren. Es folgen zwei Stücke aus der "Ziemetshauser Handschrift", einem der ältesten Tanzmusikdokumente Bayerns. Nur eine Notenzeile ist überliefert. "Wir wissen nicht, welche Begleitung oder weitere Stimmen vorgesehen waren", sagt Sift. So haben die Musiker eine eigene moderne Version über die Grundmelodie gelegt - mit wechselndem Takt wie beim Zwiefachen. Am Schluss gibt es viel Applaus. "Das Konzert hatte direkt eine therapeutische Wirkung", lobt ein Zuhörer.

Rießner spielt noch bis Ende dieser Woche mit Johannes Sift, nach einer solistischen Woche wird sie dann in einem Trio Klassiker wie Beethoven und Mahler intonieren. Nähere Informationen gibt es auf der Website unter www.hauskonzert-am-Ammersee.de.

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Quelle:
SZ vom 10.06.2020
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