Mit dem Einmarsch amerikanischer Truppen ins Fünfseenland vor 75 Jahren war für dessen Bewohner der Zweite Weltkrieg faktisch beendet. Kreisarchivpflegerin Friedrike Hellerer gibt Auskunft über das Chaos in den letzten Tagen des NS-Regimes, seine Täter und Opfer im Landkreis Starnberg und über die Probleme, für diesen Zeitraum noch verlässliche Quellen zu finden.

SZ: Zwei Wochen vor dem Kriegsende in Europa marschierten die Alliierten ins Fünfseenland ein. War das für die Bevölkerung eine Befreiung oder eine Besetzung?
Hellerer: Was aus heutiger Sicht ganz klar als Befreiung zu sehen ist, empfanden diejenigen, die 1945 im Landkreis Starnberg gelebt haben, wohl sehr unterschiedlich. Die Menschen waren vollkommen verunsichert, man hat den Kopf eingezogen und gehofft, dass es bald wieder normal wird - ein bisschen wie heute in der Corona-Krise. Keiner wusste, wie die Alliierten auf das bisherige Kriegsgeschehen reagieren, aber allen war klar, dass sich die Deutschen als Invasoren und Besatzer nicht mit Ruhm bekleckert hatten. Vor allem vor den Russen war die Angst riesengroß.
Dann aber kamen amerikanische Truppen in den Landkreis, am Ammersee auch französische Einheiten. Aus welcher Richtung rückten sie vor?
Zunächst marschierten das 101. und das 116. US-Kavallerieregiment ein - auch an beiden Ufern des Ammersees. Nach Herrsching etwa rückten am 28. April die Soldaten mit Panzern von Süden aus Richtung Weilheim und Dießen vor.
Dann wurde die US-Army am Westufer des Ammersees von den Franzosen abgelöst.
Es gibt auch Fotos von General de Gaulle, wie er Truppen auf der Herrschinger Hannawies inspiziert auf der Durchreise zu Besprechungen des alliierten Kontrollrats.
De Gaulle hatte sich in der Gaststätte "Alte Villa" in Utting einquartiert. Am Ammersee-Westufer kursieren viele Geschichten über Plünderungen und Gewaltakte der französischen Besatzer.
Auch aus Hechendorf und Breitbrunn wird von Übergriffen französischer Soldaten berichtet. Wenn man zuvor die deutsche Besatzung der eigenen Heimat miterlebt hat, ist es verständlich, dass sich der Zorn erst einmal irgendwie entlädt. Manche fanden hier Keller voller Konserven vor, während ihre Familien zu Hause hungerten. Die Amerikaner, die ja auf eigenem Grund und Boden keine Zerstörungen erlebt hatten, waren gegenüber der hiesigen Bevölkerung viel freundlicher.
Wie lange dauerte dieses französische Intermezzo?
Das ist nicht klar zu beantworten. Für Herrsching gehen die Angaben von zwei Wochen bis drei Monate.
Da gibt es keine verlässlichen Daten?
Nein, die Archivlage aus dieser Zeit ist sehr prekär. Die NSDAP-Funktionäre ließen kurz vor dem Zusammenbruch alle Unterlagen vernichten. Auch in den Gemeinden wurde aufgeräumt, in den Ratsbüchern findet man viele herausgerissenen Seiten.
Was ist mit Zeitungsartikeln und schriftlichen Augenzeugenberichten?
Die Ausgaben des Starnberger Land- und Seebooten von 1941 bis 1945 sind bis heute nicht zugänglich, weil der Verlag seinen Bestand nicht herausgibt. Und aus der Zeit April/Mai 1945 existieren kaum persönliche Aufzeichnungen. Damals blieb wenig Zeit zur Verschriftlichung, jeder war mit Überleben beschäftigt. Und es konnte riskant sein, mit Briefen und Tagebucheinträgen erwischt zu werden, die sich kritisch äußerten.
Aber später müssten doch genug Rückblicke auf dieser Zeit verfasst worden sein.
Rekapitulierenden Erzählungen darf man nicht all zu sehr vertrauen. Für meine Dissertation habe ich im Staatsarchiv etwa 2500 Akten von Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung gesichtet. Da bin ich auf fünf verschiedene Varianten der Befreiung von Herrsching gestoßen: Es geht von eilig errichteten Barrikaden bis zum Meer von weißen Fahnen. Vom Hörensagen in den Familien wiedergegebenen Geschichten muss man mit vielen Fragezeichen versehen.

In welchem Zeitraum spielte sich die Befreiung im Landkreis Starnberg ab?
Das waren nur drei Tage, in denen es aber ziemlich rundging. Am 27. April kamen die KZ-Häftlinge aus Dachau auf ihrem Todeszug durch Starnberg, am 29. marschierte die US-Armee ein. Und dazwischen verbreitete noch ein SS-Trupp Angst und Schrecken und rief den Volkssturm zum Widerstand auf.
Waren das Einheimische?
Nein, es war der versprengte Haufen einer Kompanie aus dem Raum Nürnberg. Die kamen mehr oder weniger auf der Flucht Richtung "Alpenfestung" durch die Kreisstadt, haben aber dabei unterwegs noch sogenannte Verräter erschossen. In Starnberg lebte Emil Maurice, Hitlers Chauffeur und Vertrauter, ein Nazi der ersten Stunde. Er war Kompanieführer des Volkssturms mit Gefechtsstand in Starnberg, setzte sich aber vor dem Einmarsch der Amerikaner ab.
Hatte der Aufruf zum Volkssturm im Fünfseenland Erfolg?
Den meisten Menschen war klar, dass das Regime am Ende war. Der kommissarische Landrat Max Irlinger hatte am 27. April schriftlich alle Bürgermeister aufgefordert, die Verteidigung zu unterlassen, obwohl ihm dafür standrechtliche Erschießung drohte. Er wurde ein paar Stunden von SS-Leuten verhaftet und bedroht - angeblich auch deshalb, weil er Waffen hatte verschwinden lassen. Irlinger wurde 1948 wieder zum Starnberger Landrat gewählt, er blieb bis 1969 im Amt.
Gab es Sabotageakte gegen die anrückenden Alliierten?
Pioniere der Waffen-SS haben die Würmbrücke von Percha gesprengt - oder eher: es versucht. Sie waren nicht besonders erfolgreich, zwei Tage später hatten die Amerikaner das Bauwerk wieder repariert.
Die Begegnung mit den Häftlingen auf dem Todesmarsch muss die Leute doch schockiert haben?
Ja es gibt viele Erzählungen, dass die Leute beim Anblick dieser ausgehungerten und zerlumpten Gestalten zutiefst berührt waren. Es schneite, auf dem Weg wurden die Häftlinge mit Gewehrkolbenhieben vorangetrieben oder erschossen. Die Unmenschlichkeit war so greifbar, da konnte keiner mehr wegschauen. Manche steckten den Häftlingen heimlich Essen zu, diese Berichte sind durchaus glaubwürdig.
Lager für Displaced Persons in Feldafing:Ignorierte Weltgeschichte
Von Ende April 1945 an kommen jüdische KZ-Häftlinge in Feldafing unter. Eisenhower und Ben-Gurion besuchen das Camp, der junge Leonard Bernstein dirigiert dort ein Konzert. Doch bisher hat es noch keine Gedenkfeier der Gemeinde gegeben.
Mit Ausnahme von Utting, wo seit 1944 das Außenlager Kaufering X bestand, dürften die Bürger im Fünfseenland wenig von den schrecklichen Zuständen in den Konzentrationslagern mitbekommen haben, oder?
Ich habe kürzlich die Ausstellung am Uttinger Bahnhof angesehen. Im Ort muss jeder Bescheid gewusst haben oder hat die Augen absichtlich geschlossen gehalten. Ich denke aber, dass es überall Allgemeinwissen war, was in den KZs passiert ist. Man hat dazu keine Fragen gestellt und das Thema so gut wie möglich ignoriert. Anstelle der Opfer waren im Landkreis Starnberg ja vor allem die Täter zuhause. Ja, Starnberg und Herrsching waren die Zentren. Am Ammersee lebten unter anderen der Rassenhygieniker Alfred Ploetz, Roderich Fick, einer von Hitlers Lieblingsarchitekten, und Fritz Reinhardt, Begründer der NSDAP-Rednerschule. Auch Hans Frank, höchster Jurist des Dritten Reichs, besaß dort in Herrsching-Lochsachwab ein Haus mit Seegrundstück. Im Krieg wurde er als Generalgouverneur und "Schlächter von Polen" bekannt, 1946 im Nürnberger Prozess als Hauptkriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Was geschah mit den übrigen NS-Größen beim Einmarsch der Alliierten?
Ploetz war 1940 gestorben. Fick wurde genauso wie Reinhardt, der unterwegs zur legendären Alpenfestung war, verhaftet.
Wurde denn kein Nazipolitiker von den Alliierten gleich zur Rechenschaft gezogen?
So weit mir bekannt ist, haben Franzosen nur den Feldafinger NSDAP-Ortsgruppenleiter Fritz Brubacher erschossen. Die Amerikaner gingen davon aus, dass das gesamte deutsche Volk entnazifiziert werden musste. Sie hatten Positivlisten mit Leuten, die in irgendeiner Form Widerstand geleistet hatten und sich für die Verwaltung eigneten. In manchen Orten bestimmten sie so gezielt, wer als kommissarischer Bürgermeister eingesetzt wurde.
Und welche Konsequenzen mussten die lokalen NS-Funktionäre tragen?
Die meisten haben solange prozessiert, bis sie im Entnazifizierungsverfahren als Mitläufer eingestuft wurden und so wieder als anerkanntes Mitglied der Gesellschaft galten. Der langjährige NSDAP-Kreisleiter und Starnberger Bürgermeister Franz Buchner, Nazi-Schläger der ersten Stunde, floh 1945 und versteckte sich jahrelang unter falschem Namen in Franken. Als er endlich als Mitläufer eingestuft war, versuchte er sogar noch, seine Bürgermeisterpension einzutreiben.
Das Fünfseenland ist ja auch von Kampfhandlungen weitgehend verschont geblieben. Unter dem NS-Regime und im Krieg scheint es fast so etwas wie eine Insel der Glückseligen gewesen zu sein.
Ja, das Erleben des Kriegsgeschehens lief hier relativ abstrakt ab. Im Landkreis hat man - vom Luftangriff auf die Dornierwerke Oberpfaffenhofen abgesehen - eigentlich nur bemerkt, wenn die Bomber in Richtung München flogen. Vereinzelt wurden auf dem Rückflug überschüssige Sprengkörper abgeworfen. Gezielte, direkte Attacken auf Siedlungen oder zivile Einrichtungen fanden im Fünfseenland nicht statt, hier war man eher indirekt durch ausgebombte Flüchtlinge und die Kinder-Landverschickung betroffen. Und natürlich durch die Todesanzeigen der Gefallenen.
Was hat Sie bewogen, sich als Historikerin gerade mit dieser dunklen Periode auseinanderzusetzen?
Aus drei Büchern ein viertes zu schreiben war nicht so mein Ding. Bei der NS-Zeit spürte ich: Da hat vorher niemand hingeguckt, da muss man was machen. Mich fasziniert auch die unterschwellige Präsenz dieser Ära, wie etwa in manchen Familien Kinder schon ganz früh merken, dass es da Leerstellen in Biografien gibt. Es gibt auch einen Herrschinger, dessen Großvater als Jude in Auschwitz ermordet wurde. Der Enkel will aber seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, weil er schon wieder Angst um seine Familie hat. Bislang habe ich mich vor allem mit den Tätern der NS-Zeit beschäftigt, nun will ich auch die Opfer vorstellen. Ich arbeite gerade an einer Wanderausstellung zum Thema "Euthanasie Opfer des NS-Regime im Landkreis Starnberg", die eigentlich am 3. Mai im Landratsamt eröffnet werden sollte.