Seit 33 Jahren gibt es das Ensemble Carmina Viva schon. Von der Wörthseerin Barbara Hennicke gegründet und bis heute geleitet, konnte es sich einen festen Platz in der regionalen Chorlandschaft sichern. Mit Auftritten in und um München ist er noch immer kontinuierlich präsent. Das ist ungewöhnlich, denn solche Unternehmungen überleben so lange Zeiträume meist nur mit überregionalem Austausch und dem Ehrgeiz, Wettbewerbspreise zu erringen. Das gemeinsame Wachsen von Hennicke und dem Ensemble, das sie zusammenschweißte, machte es möglich, eine beachtliche Qualität zu erreichen. Absolute Intonationssicherheit und klangschön austarierte Ensemblebalance sind selbst bei komplexen chromatischen bis atonalen Aufgaben so selbstverständlich wie einfühlsame Tongestaltung, präzise Sprachformung und reiche Klangdifferenzierung. Im letzten A-cappella-Konzert des Winterprogramms "Praise the Lord" in der Kirche St. Vitus in Stockdorf sollte mit diesen Ausprägungen "Ehrfurcht vor der Schöpfung" ausgedrückt werden. Dies war der Schlüssel zum Verständnis der Interpretationen, die dem Impuls zu strahlendem Freudengesang nie gänzlich nachgaben. Ehrfurcht impliziert eben Zurückhaltung, Selbstbeherrschung, Demut.
Das zeigte das Ensemble gleich in Gabrielis eng verflochtenem Chorsatz des "Jubilate Deo", als die festlich-strahlende Charakteristik mit Verhaltenheit in Richtung Atmosphäre abbog. Selbst bei reicher Polyphonie mit üppiger Klangfülle wie in "Die Himmel erzählen die Ehre Gottes" von Schütz floss die beschwingte Rhythmisierung lyrisch dahin. Bei Tomás Luis de Victorias "Jesu, dulcis memoria" tauchte der Chor sogar in eine düstere Stimmung, die keine Süße aufkommen ließ.
Die auf Melancholie als Grundmotiv abgestimmte Werkauswahl ließ einmal mehr deutlich werden, dass sich die Musik der Renaissance und des Barock bestens mit zeitgenössischen Werken verträgt. Zumal wenn letztere der elegisch geprägten nordischen Tradition entstammen: Allen voran das "Pater noster" des Letten Pēteris Vasks von 1991, das geradezu exemplarisch für ehrfürchtige Frömmigkeit stand. Das Ensemble zeigte Geduld mit Vasks langsamer Dramaturgie, mehr noch in "Power of Nature" von Alwin Michael Schronen: Sein Thema brachte bei wachsender Substanz atmosphärische Soundscapes mit sich. Es hätte ruhig mehr sein dürfen - mehr Intensität, mehr Klangvolumen, mehr Emotion. Genauso bei "Song of Praise" des Norwegers Knut Nystedt, das zwar gospelähnlich mit beschwingter Rhythmisierung daherkam, aber sich in der Inbrunst zurückhielt.
Das Quintett Ensemble Pévernage aus den Reihen des Chores ging etwas mehr aus sich heraus. Farbenreicher bei Nystedts "Peace I leave with you und strahlender in "Laudate Dominum", das dennoch eine lyrische Hymne blieb. Schon bei Purcells komplexer Harmonik begeisterte das Quintett als kompakter Klangkörper, der nach anfänglicher Berührungsangst der Stimmen eine homogene Einheit formte.
Dass da sehr viel Kopf im Spiel war, zeigte sich in den Chorsätzen Bachs, dem man durchaus barocke Sinnenfreuden zugestehen darf. Es fesselte zwar, wie da über den Tiefen die hohen Lagen in weiten Bögen des "Sei Lob und Preis mit Ehre" schwebten. Doch Intensivierungen und Verdichtungen hätten eine glühendere Substanz vertragen. Mit der Trauermotette "Fürchte dich nicht" wagte sich Hennickes Vokalensemble auf sehr komplexes, kontrapunktisch klar durchkonstruiertes Terrain vor. Präzise, blitzsauber und transparent vorgetragen, kam hier zumindest eine monumentale Größe zustande. Beeindruckend - doch gegen eine gewisse Monotonie des Werks kam sie nicht an und blieb so liturgischer Strenge treu.