Kino Starnberg:Zuckerwasser statt Zyankali

Die Schulvorstellung der Doku "Wir sind Juden aus Breslau"

Von Isabella Falkner, Starnberg

Bis jetzt waren im Geschichtsunterricht nur die Golden Twenties und die Weimarer Republik ein Thema. Aber zur Vorbereitung auf den Film habe ihr Lehrer sie auch schon ein bisschen über den Holocaust informiert, erklären Leonhard, Emilia, Julius und Nelli. Die Neuntklässler vom Gymnasium Starnberg sind zu einer Schulvorstellung ins Kino Starnberg gekommen: "Wir sind Juden aus Breslau" steht auf dem Programm, Regisseurin Karin Kaper ist ebenfalls angereist. Und eines der Themen dieser Doku ist die systematische Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden durch die Nazis. 14 Zeitzeugen berichten in dem Film über ihre Lebenswege, die Zeit während des Holocaust und die Zeit danach. Denn das ist das zweite große Thema: das Überleben und die Fähigkeit, sich nach solchen grauenhaften Erfahrungen ein neues Leben aufzubauen.

Zugleich begleitet die Dokumentation ein Projekt: Aus vier Gymnasien in Bremen konnten sich Schülerinnen und Schüler melden, die zu zweit mit noch jeweils zwei polnischen Jugendlichen einen Zeitzeugen begleiten wollten. Eine der Überlebenden, die berühmte Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, führt ihre vierköpfige Gruppe zum Bahnhof in Breslau. Sie wollte seinerzeit von dort aus mit ihrer großen Schwester fliehen. Als die Gestapo sie erwischte, nahm sie aus ihrer Jackentasche ein Fläschchen Zyankali, erzählt Lasker-Wallfisch. Sie habe sich lieber selbst umbringen wollen, bevor die Gestapo sie tötete. Das Gift hatte sie von einem Freund, doch er hatte das Zyankali zum Glück gegen Zuckerwasser ausgetauscht. Die Schüler auf der Leinwand und auch die im Kino sind sichtlich ergriffen. In dieser Art und Weise erzählt der Film die Geschichte von 14 Menschen, die "in den 30-er Jahren, also als das passierte, ungefähr in eurem Alter waren", sagt Kaper. An manchen Stellen fällt es allerdings schwer, zu erkennen, von welchem Schicksal genau gerade die Rede ist.

Die Aussagen der Zeitzeugen sollen für sich stehen, "ich wollte keinen Kommentar darüberlegen, jeder einzelne soll sich ein Bild darüber machen können", sagt Kaper. Vor allem gegen Ende des Films wird der Aktualitätsbezug immer deutlicher: Kurz nachdem in Breslau der Marsch der gegenseitigen Achtung stattfand, an dem sich auch die Holocaust-Überlebenden und die Teilnehmer des Projekts beteiligten, demonstrierten am Nationalfeiertag in Polen die "Nationalisten". Kaper schneidet beides zusammen: hier die rassistischen und europafeindlichen Parolen, da der andächtige und friedliche Marsch der Überlebenden. Diese Antithetik war gar nicht geplant: Kaper erfuhr zufällig von der Demonstration der Nationalisten und dachte sich, sie müsse das in den Film mit aufnehmen, weil diese Entwicklung ja ganz Europa ergreift, erzählt sie.

Die Diskussion nach dem Film dreht sich um Toleranz, Rassismus und faschistisches Gedankengut im Alltag. Ein Schüler erzählt, dass in einer WhatsApp-Gruppe rassistische Sticker herumgeschickt worden seien. Lautes Gemurmel im Kinosaal. Ein Mädchen will Hakenkreuze an der Schule gesehen haben, an der sie war, bevor sie ans Gymnasium Starnberg kam, die seien aber bald entfernt worden. Ein anderes Mädchen merkt an: "Wir sind gar nicht so tolerant, wie wir manchmal denken. Man muss noch viel toleranter werden."

Der Film läuft noch einmal am 15. Dezember, 11 Uhr, im Kino Starnberg.

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