Kerschlach:Auf dem Kutschbock durch die Lande

Sein Vater war Kunsthistoriker und schrieb einst für die liberale "Vossische Zeitung", bis ihm die Nazis das Schreiben verboten. Andreas Nemitz wählte für sich einen anderen Weg: Er zieht die Arbeit mit Pferden und das langsame Reisen mit Gästen vor

Von Astrid Becker, Kerschlach

Andreas Nemitz ist ein Mensch, dem man stundenlang zuhören könnte. Weil er ganz wunderbar erzählen kann. Dabei geht er einer Profession nach, die nicht nur rhetorisches Geschick verlangt, sondern auch das Vermögen, Stillschweigen zu bewahren. Sei es in Momenten, in denen lautes Gewäsch unangebracht wäre, auf Beerdigungen etwa. Oder wenn einer seiner Gäste unbedingte Diskretion verlangt. Etwa, wenn es sich dabei um eine Persönlichkeit handelt, deren Privatleben nur allzu gern in Klatschspalten ausgebreitet wird.

Kerschlach Andreas Nemitz

Genüsslich schleckt Stute Henrietta Andreas Nemitz über die Hand.

(Foto: Georgine Treybal)

Andreas Nemitz' Arbeitsplatz ist der Kutschbock. Hoch auf dem gelben Wagen, was bei Nemitz keine sinnlos bemühte Metapher ist, sondern Realität, kutschiert der mittlerweile 78-Jährige nicht nur harmlose Touristen durch die unmittelbare Umgebung des Guts Kerschlach, sondern fährt mit ihnen schon mal bis zu den Königsschlössern, über die Alpen oder quer durch die Toskana.

2014 beispielsweise war mal wieder so eine bekannte Persönlichkeit mit Nemitz unterwegs. David Rockefeller hatte sich kurz vor seinem 99. Geburtstag etwas Besonderes für sich und seine Entourage ausgedacht: Eine Kutschenreise mit Nemitz durch Italien. Mit mehreren Helikoptern sei die Gästeschar Rockefellers angereist, erzählt sein Kutscher. Extra einen Wagen mit niedrigem Einstieg, nicht die große gelben Postkutsche, habe er ausgewählt für diesen hochkarätigen Gast aus den USA. David Rockefeller ist nicht nur der Enkel des Ölmagnaten John D. Rockefeller, sondern selbst Bankier, Milliardär und Staatsmann mit enormem Einfluss in Amerika. "Der hat noch sehr gut ausgesehen, war geistig topfit, nur körperlich merkt man das fortgeschrittene Alter an", erzählt der Kutscher. Vielleicht nicht nur das Alter. Schließlich ist Rockefeller nicht nur seines Geldes wegen berühmt, sondern auch, weil er den Weltrekord in Sachen Herztransplantationen hält. Sieben neue Herzen soll er schon bekommen haben, so schreiben Vertreter der Yellow Press gerne, die wahrscheinlich viel dafür gegeben hätten bei der besonderen Feier von Rockefeller dabei sein zu können. Aber sie wussten es nicht. Und vermutlich wären sie auch nie auf die Idee gekommen, dass sich jemand wie Rockefeller für seinen Geburtstag ausrechnet einen Kutscher aussucht, der in einem Bauernhaus auf dem Gut Kerschlach zuhause ist.

Gut Kerschlach: Schlittenfahrt mit Andreas Nemitz

Wenn der Schnee hoch genug ist, geht es schon mal statt mit der Kutsche mit dem Schlitten über Land, manchmal sogar direkt vor Gut Kerschlach.

(Foto: Nila Thiel)

Nemitz selbst scheint dies allerdings weniger zu wundern. Er hat dafür eine Erklärung parat, die für die meisten Menschen aus dem Fünfseenland, wenn nicht aus ganz Bayern oder gar Deutschland, verblüffend sein dürfte. Nirgendwo sonst auf der ganzen Welt, so sagt er, gebe es so ein durchgängiges Wegenetz, das Reiter und Kutscher nutzen könnten wie in Bayern: "Das ist ja mein Kapital." Und diese Sonderstellung habe sich herumgesprochen - bis nach England, Amerika oder sogar Neuseeland und Australien. Ländern, aus denen noch heute viele seiner Gäste kämen. Nemitz spricht sehr gut Englisch. Dies allerdings hat keineswegs mit seiner Tätigkeit als Kutscher zu tun, sondern vielmehr mit seiner Biografie.

Kerschlach Andreas Nemitz

Dort ist der Kutscher auch zuhause.

(Foto: Georgine Treybal)

1939 wird er geboren, wenig später ziehen seine Eltern von Berlin nach Tutzing um. Sein Vater, ein Kunsthistoriker, hatte viele Jahre unter anderem für die berühmte liberale Vossische Zeitung geschrieben - einem Blatt, das 1617 erstmals in gedruckter Form erschienen war und bei dem Schriftsteller wie Gottfried Ephraim Lessing oder auch später Kurt Tucholsky gearbeitet hatten. Auf Druck der Nationalsozialisten stellte der Ullstein Verlag die Zeitung 1934 ein. Nemitz' Vater Fritz arbeitete noch ein paar Jahre für das Berliner Tageblatt, bis er zu den Münchner Neuesten Nachrichten, der späteren Süddeutschen Zeitung wechselte. Noch in Berlin hatte er den Maler Leo von König kennengelernt, der ihn 1925 sogar porträtierte. Doch irgendwann wurde es dort zu gefährlich für die Familie. Der Vater hatte nie ein Hehl daraus gemacht, die Vertreter der sogenannten entarteten Kunst zu verehren und schon allein aus diesem Grund keine rechte Freude am nationalsozialistischen Regime zu haben. Leo von König brachte ihn schließlich auf die Idee, von Berlin nach Tutzing zu gehen und ins "Brahms-Haus" zu ziehen, (wo Leo von König übrigens dann selbst bis zu seinem Tod 1944 lebte). Die Familie Nemitz bewohnte später aber auch das Kutscherhaus der Villa Stolberg, einem Anwesen, das einst der Familie des Nazi-Kritikers Friedrich von Prittwitz und Gaffron gehört haben soll.

Kerschlach Andreas Nemitz

Sechs Pferde hat Nemitz im Stall - und das passende Zaumzeug.

(Foto: Georgine Treybal)

Seine Eltern hätten ihm viele Freiheiten gelassen, erzählt Andreas Nemitz heute über seine Jugend. Trotzdem hätten sie es wahrscheinlich gern gesehen, wenn ihr einziger Sohn wie sein Vater ebenfalls einen "geistigen" Beruf, wie Andreas Nemitz es selbst nennt, ergriffen hätte: "Doch das war nichts für mich. Ich habe so oft bei meinem Vater erleben müssen, welch' schwere Geburt Texte sind, damit sie locker und leicht klingen", sagt er. Also entschied sich der Sohn nach dem Abitur ganz anders. Er lernt bei Ludwig und Rasso, den Prinzen von Bayern, in Leutstetten in deren damaligem Gestüt alles über Pferde und geht dann zwölf Jahre zur Marine, zwei Mal hat ihn das rund um den ganzen Globus gebracht. Dann arbeitet er für eine namhafte Firma, die sich unter anderem auf Gefechtsköpfe spezialisiert hat. Englisch ist dort gewissermaßen Amtssprache, Geheimnisse nicht auszuplaudern gehört ebenso dazu. Doch irgendwann hat Nemitz kein Interesse mehr an diesem Job.

Und schuld daran sind die Pferde. Bereits mit der Ölkrise 1973 hatte er sich ein Ross gekauft: "Das war wegen der autofreien Sonntage, ich suchte nach einem Verkehrsmittel, das mich zum weit entfernten Bahnhof bringen sollte." Aus diesem einen Pferd, das er zunächst nur privat nutzte, ist heute ein eigener Betrieb geworden.

Sechs Pferde stehen derzeit bei Andreas Nemitz , der das Haus in Kerschlach Mitte der achtziger Jahre gekauft hatte, im Stall. Alle sechs, so sagt er, sind im Jahr viele tausend Kilometer unterwegs. Mal in der Umgebung, mal in der Ferne. Mal, weil Menschen Spaß an der ruhigen Art zu reisen finden, mal, weil Filmproduzenten jemanden wie Nemitz brauchen, um ihre Ideen umzusetzen.

Erst neulich wieder war so ein Dreh. Er habe eine weißrussische Pianistin samt Flügel über die Wiesen Kerschlachs kutschieren müssen, erzählt Nemitz. Ungewöhnlich mag das klingen, für ihn ist so etwas normal. Ebenso wie Hochzeitspaare zu fahren, im Winter, wenn genug Schnee liegt, den Pferdeschlitten anzuspannen oder auch Prominenten wie Rockefeller Sonderwünsche zu erfüllen. Nur eines bedauert er: "Dass es bei uns - anders als in anderen Ländern und Kulturen - so wenig verbreitet ist, Menschen mit einer Kutsche das letzte Geleit zu geben." Dabei hätte er genau dafür einen besonders schönen Wagen bei sich stehen. Genutzt hat er ihn aber schon lange nicht mehr. Zuletzt, 2008, für Ludwig Prinz von Bayern, seinem einstigen Lehrherren, dessen Sarg er nach Andechs kutschierte. "Das habe ich den Wittelsbachern selbst angeboten, das war für mich eine Frage der Ehre."

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