Kempfenhausen:Magische Performance

Das "Echolot"-Festival beweist erneut Mut zum Experiment

Von Reinhard Palmer, Kempfenhausen

Nein, es gibt keine gänzlich freie Musik. Im Gespräch mit dem Publikum wurde nach dem Konzert klar, was Psychologen bestätigen können: Selbst bei einer Ad-hoc-Improvisation liefert das Unterbewusstsein blitzschnell Erfahrungswerte und steuert die scheinbar spontane Handlung der Musiker, wobei die Handlungsgeschwindigkeit die bewusste Wahrnehmung der Intention unterbindet. Künstlerischer Leiter des Echolot Festivals Gunter Pretzel präzisierte denn auch von "freie und gebundene" in "notierte und nicht notierte" Musik, mit der sich das Eröffnungskonzert der dritten Festivalausgabe des "Echolot" unter dem Titel "frei - gebunden - frei" befasste.

Dass der Titel wie eine Anleitung anmutet, verwies darauf, dass es sich um eine Art Versuchsanordnung handelte, die weniger Lösungen anbieten als vielmehr zur Diskussion anregen wollte. Die folgte auch, nachdem zuvor viel Musik im Rittersaal des Schlosses Kempfenhausen erklungen war. Freie Improvisation, vor allem aber notierte Musik, die in der Auswahl im Sinne hatte, sich möglichst von Bindungen zu befreien. Gemeint ist atonale Musik vor der Zwölftonmusik, die wiederum einer Reglementierung, daher einer Bindung unterlag. Vor zwei Jahren für ihre Bach-Einspielung gefeiert, überraschte Dina Ugorskaja am Flügel mit inhaltlicher Vielseitigkeit in freier Ad-hoc-Improvisation mit Mut zu einem durchaus gewagten Experiment: Gehört doch eine Menge Praxiserfahrung dazu, bewusste Intentionen zu unterbinden und den Körper intuitiv agieren zu lassen.

Dass sich beim Improvisationstrio Harald Kimmig (Violine), Alfred Zimmerlin (Violoncello) und Daniel Studer (Kontrabass) dennoch stets ein dramaturgisch stringenter Ablauf einstellte, hing mit den gemeinsamen Konzerterfahrungen der drei Musiker im Ensemble zusammen; das vergleichbar ausgebildete Formempfinden setzte sich durch. Ansonsten gelang es dem schweizerisch-deutschen Trio ohne tradierte Muster auszukommen, was vor allem die Betonung perkussiven Spiels und radikale Abwendung von Verbindungen melodisch-thematischer Art unterstützten. Im Gegenzug stehen Ad-hoc-Improvisatoren viele Möglichkeiten der Tonerzeugung zur Verfügung, ist doch in der Anwendung der Instrumente in der Gattung alles erlaubt: Klopfen, hämmern, schlagen, wischen, streichen, reiben, kratzen - und alles in diversen Varianten. Zog man den Vergleich zu den Interpretationen notierter Musik von Ugorskaja heran, so fiel in beiden eine extreme Emotionalität auf, die allerdings bei der notierten Musik auf eine subtilere Weise zustande kam.

Die "Sechs Klavierstücke" op. 19 von Schönberg etwa fanden sie in einer fesselnden Narration mit expressiven Ausbrüchen von aphoristischer Kürze. Noch asketischer konzentrierte Kurtág den Gehalt in "Játékok" (Spiele), einem Work in Progress, in dem der Komponist offenbar darauf bedacht ist, den reinen Ausdruck zu extrahieren. Skrjabins "Fünf Préludes" op. 74 von 1914 haben eine ähnliche Intention: Charakterentwicklung auf engstem Raum. Doch die traditionsgebundene Vorgehensweise Skrjabins bediente sich vordefinierter Ausdrucksträger - formale Mittel, denen die Pianistin höchste Intensität angedeihen ließ. Zunächst die elegische Grundstimmung, gefolgt von enormer Spannung, die Ugorskaja in ihrer kurzen Erläuterung in einer harmonischen Überlappung von Dur und Moll ausmachte.

Dass bei Boris Yoffe (Jahrgang 1968) monumentales Pathos ins Spiel kam, lag am Kontext des 2009 geschaffenen Werkes, das mit dem Titel "Angelus novus" auf die Herkunft verweist. Ugorskaja brachte sie in Fotokopie mit: Das gleichnamige Gemälde von Paul Klee. Doch es war offenbar nicht das Bild selbst, das Yoffe zu diesem Stück animierte als vielmehr dessen interpretierende Beschreibung von Walter Benjamin, die Ugorskaja hier abspielte. Benjamins Auslegung ist von geradezu apokalyptischer Dimension: Auch kleine Dinge können große Bedeutung haben. Das war im Spiel Ugorskajas zu spüren und in donnernden Passagen zu hören. Notierte Musik, die intuitiv daherkam, in ihrem dramaturgischen Aufbau dann aber traditionell. Es folgte lang anhaltender Applaus und anschließend eine magische Performance von Manuela Hartel im Schlosspark in mystischen Sphären.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: