Geschichte:So ist der Starnberger

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Starnberg aus der Vogelperspektive, fotografiert vom höchsten Punkt der Stadt, aus der Turmluke des Schlosses. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Der Mediziner Karl von Linprun setzt sich 1861 eingehend mit den Bürgern der Stadt auseinander. Er verfasst ein einzigartiges Zeitdokument über deren Gesundheitszustand - aber auch über deren ausschweifenden Lebenswandel.

Von Sabine Bader, Starnberg

Der königliche Rat Karl von Linprun war nicht nur der Arzt von Prinz Karl, der in der Villa Almeida an der Weilheimer Straße residierte, sondern auch Bezirksarzt in Starnberg. Und in dieser Eigenschaft verfasste er im Jahr 1861 ein bis heute einzigartiges Zeitdokument über die Starnberger Bevölkerung. Über den Bericht selbst und über den Mediziner Linprun, der in einer Villa in unmittelbarer Nähe des Prinzen lebte, weiß die Starnberger Kunsthistorikerin Claudia Wagner viel zu berichten.

Man schreibt das Jahr 1858. Maximilian II. (1848 bis 1864) ist zu jener Zeit Regent in Bayern. Er hat die Amtsgeschäfte von Ludwig I. übernommen. In diesen aufklärerisch geprägten Jahren verändert sich laut Wagner vieles im Land. Der Staat wandelt sich vom Agrarstaat hin in Richtung Industriestandort. König Maximilian II. ist offensichtlich auch sehr bewusst, dass die Bevölkerung zentral ist, um ein funktionierendes Staatswesen aufrecht zu erhalten. "Das Volk tritt mehr in den Mittelpunkt," sagt Wagner.

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Schon darum entwickelt sich Interesse an einer gesunden Bevölkerung. So gibt der Monarch den Auftrag an 39 Bezirksärzte, sogenannte Physikatsberichte zu verfassen; das heißt: Berichte über den Gesundheitszustand der Menschen in ihrem Bezirk. Die Ärzte haben hierfür drei Jahre Zeit. "Linpruns Physikatsbericht ist der umfangreichste, den es von all den Ärzten gibt", erzählt Wagner. Denn der Mediziner beschreibt in seiner Dokumentation aus dem Jahr 1861 nicht nur den gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung in Starnberg, sondern gibt auch einen Einblick in die hiesigen Ernährungsgewohnheiten, in die Heiratsgepflogenheiten und in die Art, wie die Starnberger ihre Feste feiern. Linprun befasst sich mit der Fortpflanzung der Bürger ebenso wie mit ihrer politischen Orientierung bis hin zu den beliebten Schimpfworten. Er macht aus der ihm gestellten Aufgabe eine aufwendige Recherche und befragt im Zuge dessen beispielsweise die ortsansässigen Pfarrer oder Gastwirte.

Die Villa Linprun neben dem Starnberger Pfarrhaus. (Foto: Bestand Schober, Stadtarchiv Starnberg)

In Linpruns Bericht heißt es unter anderem: "In intellektueller Hinsicht hat die Natur die Bewohner unseres Bezirks nicht stiefmütterlich behandelt. Man findet selten Menschen, die von Geburt an Idioten oder blödsinnig sind ... Die Geisteskräfte entwickeln sich langsam ... besonders bei den Knaben ... Die politischen Verhältnisse ... haben sie aus ihrer Indolenz aufgerüttelt, sie sogar zum Lesen von Zeitungen gebracht." Aber: "Ihr Gang und ihre Haltung sind nachlässig, unbeholfen, ohne Anmuth und Schwungkraft, ihre ganze Erscheinung hat etwas Eckiges, Plumpes. Sie verfügen mehr über rohe Kraft als über Gewandtheit und Leichtigkeit in ihren Bewegungen..."

Gegenüber der Villa Linprun steht die Villa Almeida, in der Prinz Karl und seine Frau Sophie von Bayrstorff lebten. (Foto: Bestand Schober, Stadtarchiv Starnberg)

Linprun kommt daher zu dem Urteil: "Sie sind roh und ungeschliffen, gefallen sich in der Derbheit der Ausdrucksweise, sind fröhlichen Herzens und heiteren Sinns, dem Genuße ergeben, erfreuen sich größtenteils einer guten Gesundheit und erreichen häufig ein hohes Alter." Letztendlich ist er der Ansicht: "Ihre durch ein mehr raues als mildes Klima und häufiges Arbeiten an der freien Luft gestählte Constitution befähigt sie zur Ertragung von Strapazen und körperlichen Anstrengungen und zur zahlreichen Vermehrung des menschlichen Geschlechts." Allerdings: "Geschlechtsausschweifungen sind häufig und beginnen schon in früher Jugend."

Über die ortsüblichen Hochzeitsfeiern schreibt Linprun: "Wenn man bedenkt, dass die Hochzeitsgäste von 12 bis 6 Uhr trinken dürfen so viel sie wollen ..., daß es ohne tüchtige Räusche und ohne unfreiwillige Libationen nicht abgeht, daß manchmal ... ein Mädchen nach 9 Monaten eine lebendige Erinnerung an die Hochzeit erhält, ... wird man sich auch nicht wundern, daß Arzt und Apotheker nach einem solchen Feste zu thun bekommen, wenn man sieht, daß Bursche und Mädchen vom Tanze erhitzt zum Bierkruge eilen, daß sie vom Schweiß triefend im Luftzuge stehen. Katarrhalische Leiden, Entzündungen ... Anomalieen der Menstruation sind häufig die Folgen solcher Ausschweifungen. Manche haben sich auf einer Hochzeit oder bei einer Tanzmusik gar den Keim des Todes geholt."

Was das eheliche Zusammenleben angeht, kommt Linprun zu dem Schluss: "Wenn man bedenkt, daß in unserem Bezirke bei der Eingehung der Ehen viel öfter die Rücksichten auf Vermögen und materielle Vortheile als gegenseitige Neigung und Achtung vorwalten, so darf es nicht befremden, daß oft ein Bund zwischen Charakteren geschlossen wird, die sich nicht miteinander vertragen können, man muß sich im Gegenteile wundern, daß ehelicher Unfrieden, häusliche Zwistigkeiten und Ehelosigkeit nicht viel häufiger vorfallen..." Jedenfalls: "Erfreulicherweise ist die Mehrzahl der Ehen, wenn auch nicht geradezu glücklich, doch wenigstens nicht unglücklich..."

Der Landgerichtsarzt Joseph von Linprun hat die Berichte der Pfarrer an die Regierung in München weitergegeben. (Foto: Gesellschaft Halmburgia)

"Daß die gegenseitige Neigung sehr oft nicht in der Tiefe des Herzens wurzelt, beweißt die schnelle Wiederverehelichung nach dem Tode des Gatten oder der Gattin." Denn: "Witwer und Witwen beeilen sich ... wieder zu einer ehelichen Verbindung zu schreiten, so daß dem Begräbnisse oft schon nach 4 - 6 Wochen die Hochzeit folgt."

Dass es im Vorfeld oft es zu einem wahren Handel kommt, dafür hat Linprun ein Beispiel parat: "Vor nicht langer Zeit soll es sich ereignet haben, daß zwei Hochzeiter vor dem Beginne der gerichtlichen Verhandlungen im Wartezimmer des hiesigen Landgerichts einen Brauttausch vornahmen."

Der Mediziner ist sich sicher: "Die Ursachen frühzeitigen Alterns liegen ... bei den Weibern u.a. in dem Mangel an Schonung während der Schwangerschaft und des Wochenbetts, an welcher oft die Rohheit und Rücksichtslosigkeit ihrer Ehemänner Schuld ist. In Sachen Kindersterblichkeit heißt es: "Wenig tief geht gewöhnlich der Schmerz, wenn ein Kind stirbt. Es bekommt ja der Himmel um einen Engel mehr und die Leute haben weniger Sorgen und doch noch Kinder genug..."

Zu guter Letzt dürfen natürlich wenigstens zwei der besagten Schimpfworte nicht fehlen: Da ist zum Beispiel vom "Saurüeßl" und von der "Bisgurgn" die Rede. Für Claudia Wagner hinterlässt Linprun eine "wunderbare Einsicht in das Leben in Starnberg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts".

Der Physikatsbericht ist veröffentlicht und kann im Starnberger Stadtarchiv eingesehen werden. (Anm. d. Red.: Die Schreibweise des Berichts ist übernommen.)

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