80 Jahre Kriegsende„Wir waren uns der Dramatik nicht bewusst“

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Den Starnberger Schlossgarten kennt Juliane Reister wie ihre Westentasche. Schließlich zählte die Josefskirche hier oben zu jenen Gotteshäusern im Landkreis, durch die sie früher Kunstinteressierte geführt hat. Jetzt hat die Feldafinger Autorin ein ganz persönliches Buch geschrieben.
Den Starnberger Schlossgarten kennt Juliane Reister wie ihre Westentasche. Schließlich zählte die Josefskirche hier oben zu jenen Gotteshäusern im Landkreis, durch die sie früher Kunstinteressierte geführt hat. Jetzt hat die Feldafinger Autorin ein ganz persönliches Buch geschrieben. (Foto: Foto: Nila Thiel)

Als Kind flüchtet Juliane Reister mit ihrer Familie aus Ostpreußen.  In ihrem neuen Buch fasst die Stadt- und Kunstführerin aus Feldafing ihre Erinnerungen zusammen und verknüpft diese mit Aufzeichnungen ihrer Mutter.

Von Sabine Bader, Feldafing

Kunstinteressierten im Landkreis ist der Name Juliane Reister ein Begriff. Denn viele Besonderheiten des Fünfseenlands und die Kunst in den dörflichen Kirchen haben sie erst auf ihren Führungen wirklich kennengelernt. Auch das Kaiserin-Elisabeth-Museum verbindet man mit dem Namen Reister: Hob sie einst doch die Ausstellung im historischen Bahnhof Possenhofen mit aus der Taufe, führte den dazugehörigen Verein fünf Jahre lang und blieb der Museums-Crew bis 2022  regelmäßig als Führerin treu. In München hat sich die ausgebildete Stadtführerin mit ihrem Spezialgebiet, den Brunnenführungen, einen Namen gemacht.  Die heute 88-Jährige hat etliche Bücher zu kulturellen Themen verfasst - 13 sind es, um genau zu sein. Jetzt, in ihrem 14. Werk, widmet sie sich einem sehr persönlichen Thema  - der eigenen Fluchtgeschichte aus Ostpreußen.

Es sind die frühen Kindheitserinnerungen, die im Leben immer wieder aufploppen, die einen prägen und nie ganz loslassen wollen. Juliane Reiser war sieben Jahre alt, als die Familie 1944 ihre Heimat, die Rominter Heide, ein ausgedehntes und recht urwüchsiges Waldgebiet in Ostpreußen, verlassen muss.  Drei Jahre wird die Flucht dauern. Ein permanenter Ausnahmezustand für alle Beteiligten. Meist geht es mit Pferd und Wagen voran. Zuweilen nächtigt der Tross jeden Abend in einem anderen Quartier oder Notbehelf, nicht selten in Massenlagern. Fast täglich tauchen neue Schwierigkeiten und Gefahrensituationen auf. Ein Problem für Reisters Mutter Heinke, die über lange Zeit für den Tross allein verantwortlich ist. Für die Kinder überwiegt wohl eher das Abenteuer. „Als Kind sah man das alles anders, wir waren uns der Dramatik nicht bewusst“, erinnert sich Reister.

Gerade weil das so ist, wendet die Autorin in ihrem Buch einen Kunstgriff an. Sie lässt besonders einschneidende Erlebnisse von ihrer Mutter selbst schildern und zitiert dafür aus deren Fluchtaufzeichnungen. Die Mutter hatte diese in Sütterlinschrift verfasst und Reister sie vor Jahren minutiös übersetzt. „Meine Mutter hat sie mir im Original hinterlassen“, erzählt die Autorin. „Ich konnte sie doch nicht dem Schredder übergeben. Dazu waren sie mir zu wertvoll.“ Eine Hommage an die Mutter.

Der Titel „Mariellchen von der Rominter Heide“ mag dem normalen Leser etwas schwülstig erscheinen. Wer allerdings aus Ostpreußen stammt, der weiß, dass mit „Mariellchen“ nicht etwa ein Vorname gemeint ist, sondern ein kleines Mädchen im Allgemeinen. Reister hat ihr Buch zudem unter ihrem Geburtsnamen Barckhausen verfasst, denn sie ist überzeugt, dass die meisten potenziellen Käufer wohl in Nord- und Ostdeutschland zu finden sein werden, wo ihr Geburtsname einen gewissen Bekanntheitsgrad hat.

Ihr Vater Paul Richard Barckhausen war promovierter Forstwissenschaftler und wird als musischer, charismatischer Mann beschrieben. Seine kleine Tochter Juliane wird ihn kaum kennenlernen. Denn bereits als sie zwei Jahre alt ist, fällt er 1939 im Polenfeldzug. Der frühe Verlust des Vaters hat Reiser ein Leben lang beschäftigt. Zumal sie im zweiten Mann ihrer Mutter, dem Forstmann Walter Frevert, keinen besonders verständnisvollen Stiefvater fand. Er sei zwar fachlich international anerkannt gewesen, sagt sie, aber ein absoluter Machtmensch und wenig empathisch.

In ihrem neuesten Buch schildert die Autorin ihre Flucht aus Ostpreußen.
In ihrem neuesten Buch schildert die Autorin ihre Flucht aus Ostpreußen. (Foto: Foto: Nila Thiel)
Paul Richard Barckhausen kurz bevor er 1939 im Polenfeldzug fiel.
Paul Richard Barckhausen kurz bevor er 1939 im Polenfeldzug fiel. (Foto: Repro: Nila Thiel)
Juliane Reister an ihrem ersten Schultag in der Rominter Heide in Ostpreußen.
Juliane Reister an ihrem ersten Schultag in der Rominter Heide in Ostpreußen. (Foto: Foto: Nila Thiel)

Zu den Kindheitserinnerungen, die sich ihr besonders eingeprägt haben, zählte ihr erster Schultag im Jahr 1943 noch in der alten Heimat Ostpreußen. Denn das Mädchen freute sich über die Maßen auf die Schule und ganz besonders auf das Lesenlernen. Doch ihre Freude am Schulalltag währte nur kurz. Bereits im Jahr darauf musste das Kind mit ihrer Familie die Rominter Heide verlassen. Erst drei Jahre später wird sie im Nordschwarzwald ein neues Zuhause finden - und was ihr dort besonders wichtig war:  „Ich durfte endlich wieder zur Schule gehen.“

Das Lernen und das Vermitteln von Wissen hat Juliane Reister von je her begeistert. Seit Mitte der 1970er-Jahre lebt sie mit ihrer Familie im Fünfseenland - zuerst in Gauting und seit dem Jahr 2000 in Feldafing. Und eben weil sie ihr Wissen über Kunst und Kultur weitergeben wollte, hat sie sich 1979 zur geprüften Kunst- und Stadtführerin für München und Oberbayern ausbilden lassen. „Es war eine stressige Zeit“, erinnert sie sich an die Prüfungsphase. „Seitdem habe ich geführt.“ Und das leidenschaftlich.

Es waren nicht die Königsschlösser, die Reister reizten, nicht die üblichen Touristenmagneten wie die Residenz und die Pinakothek, die sie anzogen. „Das brauchte ich alles nicht“, stellt sie fest. Denn sie hat sich schnell ein Spezialgebiet gesucht: die Münchner Brunnen.  „München ist eine Brunnenstadt“, sagt sie und ihre Augen leuchten. „Es gibt wunderbare Brunnenanlagen, an denen die Leute oft achtlos vorbeigelaufen.“ Doch wer bei Juliane Reister eine Führung buchte, der erfuhr mehr über die Besonderheiten der Brunnenkunstwerke und deren Künstler.  Fast 40 Jahre lang führte sie Kunstinteressierte durch ihre „Brunnenstadt“.

Juliane Reister besucht das Grab ihres Vaters Paul Richard Barckhausen in der Rominter Heide.
Juliane Reister besucht das Grab ihres Vaters Paul Richard Barckhausen in der Rominter Heide. (Foto: Repro: Nila Thiel)

Jetzt kann sie das aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Weil ihr das Laufen Schwierigkeiten bereitet und sie auf ihre „beiden Bodyguards“, wie sie ihre Nordic Walking-Stöcke scherzhaft nennt, angewiesen ist. Auch im Landkreis Starnberg hat sie immer Führungen an ausgewählten Orten wie der Roseninsel und durch diverse Kirchen angeboten - dazu zählen unter anderem die Kirche St. Josef auf dem Starnberger Schlossberg, St. Martin in Unering, St. Alto in Leutstetten und die Marienwallfahrtskirche in Aufkirchen.

Seit dem Tod ihres Mannes Dieter Reister im Jahr 2015 lebt die Autorin allein in Feldafing. Ihre beiden Söhne haben längst eigene Familien gegründet und bestärken die Mutter in ihren schriftstellerischen Aktivitäten. Ihr 23-jähriger Enkel Paul hat ihr neuestes Buch gegengelesen und war ihr in der dreijährigen Arbeitsphase ein interessierter Gesprächspartner.

Ihre Fluchtroute ist Juliane Reister übrigens vor Jahren noch einmal abgefahren - auch, um das Grab ihres Vaters Paul Richard Barckhausen in der Rominter Heide und die alte Heimat zu besuchen. Eine Reise in die eigene Vergangenheit.

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