Mit zeitgenössischer Musik hat das Gilchinger Publikum so seine Mühen. Da hilft es auch nichts, dass die Interpretin in der Aula des Gymnasiums, zu Gast beim Kunstforum, seit Jahren ein Stammpublikum hat. Dieses blieb diesmal weitgehend weg. Die Pianistin Julia Fedulajewa hätte sich nach dreieinhalbjähriger Bühnenabstinenz sicher einen fulminanteren Auftritt gewünscht. Zumal sie ihrer Erklärung nach gut zwei Jahre daran arbeiten musste, einen Zugang zu der aus Moskau stammenden Komponistin und Cellistin Victoria Yagling (1946-2011) zu finden - und zugleich ihre Schwiegermutter nach ihrem relativ frühen Tod in deren Wahlheimat Helsinki als Menschen kennenzulernen.
Eine sehr persönliche Annäherung also, die sie offensichtlich nicht nur intellektuell, sondern insbesondere emotional forderte und nicht mehr losließ. Aber diese beiden Wege sind wohl kaum voneinander zu trennen, wie die intensiven, sehr präsenten Kompositionen zeigen sollten.
Auch, wenn Fedulajewa gestand, sich erst am Anfang dieser Reise zu befinden und noch lange nicht zum Kern der Musik vorgedrungen zu sein, offenbarte sich darin eine starke, impulsive, vor Ideen überschäumende Persönlichkeit. Und gerade deshalb ist die Musik Yaglings wohl auch so schwer zu bändigen.
Vor allem die Überfülle an musikalischen Einfällen machte das Zuhören anstrengend, ließ damit auch mit der Zeit ermüden. Kaum hatte man ein Element zu fassen bekommen, schon wurde es von einem neuen abgelöst, noch bevor man sich damit anfreunden konnte. Rhapsodisch ging es Schlag auf Schlag mit extremem Auf und Ab, bisweilen scharf kontrastierend, immer weiter voran.
Die unterschwellige Erregung, die sich immer wieder eruptiv entlud, aber auch in den lyrischen Rücknahmen für sonore Substanz sorgte, drängte Fedulajewa geradezu dazu, mit großen Gesten zu arbeiten, die insbesondere in den programmatischen Stücken bisweilen doch etwas überdimensioniert schienen. Im "Finnische Notizbuch" (2002-2003), in dem es um Naturbeobachtungen mit Titeln wie "Heide", "Polarnacht" oder "Nordwind und die Felsen" geht, betonte dieses Gestikulieren den Charakter ausgesprochen individueller Empfindungen.
In der Musik steckt die Melancholie des hohen Nordens
Stereotype Äußerungen vermied Yagling und öffnete ihre persönliche Erlebniswelt, in der das Meer beispielsweise nicht nur mit Wellengang aufwühlt, sondern auch mit seiner weiten Leere bedrohlich daherkommt.
Dass sich unter den Stücken auch "Melancholie" fand, ist nicht weiter verwunderlich, ist doch der nordische Blues in Finnland ein allseits präsentes Erlebnis. Seit 1990 lebte und arbeitete Yagling dort. Und da alle Kompositionen des Abends aus diesem letzten Lebensabschnitt der Komponistin stammten, machte sich auch viel Elegie und Melancholie im Gilchinger Konzert breit. Das galt sowohl für musikalische Bilder des "Herbsttagebuchs" (mit Tempobezeichnungen statt programmatischen Titeln) von 2003 wie für die Reihe von Sonatinen, die zwischen 2004 und 2011 entstanden sind.
Suggestive Erzählweise und bildhafte Elemente blieben in allen Stücken das Mittel der Wahl der Komponistin. Der elegische Charakter manifestierte sich insbesondere in den von Fedulajewa höchst substanzvoll und sanglich hervorgehobenen melodischen Themen, die deutlich auf die Cellistin in Yagling verwiesen. Sie nutzte einen weiten Tonraum in ihren Kompositionen, zeigte aber eine deutliche Vorliebe für die tieferen Register.
Gerne legte sie auch den melodischen Gesang in die linke Hand, während in den Höhen die Begleitstimme in den Hintergrund rückte. Der Cello-Effekt war stets unverkennbar, was nach elf Jahren des Studiums bei Mstislaw Rostropowitsch sicher auch als Stärke gewertet werden muss.
Mit der ab und an eingeworfenen Atonalität hatte Yagling indes Mühe. Deren Aufgabe blieb daher meist klangfarblicher und charakterlicher Natur. Die meisten Klavierstücke sind offenbar dem Sohn Yaglings, Victor Chestopal, gewidmet, der am Conservatoire Royal de Bruxelles eine Professur bekleidet. Ein Vergleich mit seinen Interpretationen der Stücke wäre spannend, doch diesmal gehörte die Bühne seiner Frau Fedulajewa. Er zog es vor, sich in die letzte Reihe zurückzuziehen.