Die Haare wachsen wieder, das ist die gute Nachricht. "Das sind jetzt meine dritten", sagt Manuela P. (Name von der Redaktion geändert) und wuschelt mit einer Hand durch die zehn Zentimeter langen dunklen Büschel, die in alle Richtungen wachsen. "Sie müssen jetzt um die Narbe am Kopf herum", sagt die 42-Jährige. Ihre ersten Haare, kräftig und lang, sind bei der Chemotherapie ausgefallen. Die zweiten fielen im vergangenen Jahr der Kopf-Operation zum Opfer. Manuela P. zuckt mit den Schultern. Was sind schon Haare, wenn man ein Leben haben kann? "Ich bin so dankbar, dass ich stehen und essen kann und manchmal spazieren gehen. Ich stehe noch am Steuer."
Die gebürtige Rumänin, die seit 2010 in Deutschland lebt, hat Brustkrebs. Bereits bei der Diagnose im Sommer 2021 wurden Metastasen in der Leber und den Knochen festgestellt, im vergangenen Jahr dann auch im Gehirn. "Es hat mir buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen", erinnert sich die zierliche Frau an jenen Tag, als sie von ihrer Erkrankung erfuhr. "Der Krebs kam aus dem Nichts, ohne eine genetische Vorbelastung und obwohl ich regelmäßig bei der Vorsorge war", sagt sie. Nur vier Monate zuvor hatte sie ihren Sohn Petar geboren, das Glück schien vollkommen. Sie und ihr Mann hatten gute Jobs und große Pläne, beide hatten eine kaufmännische Ausbildung gemacht. Kurz vor der Geburt waren sie raus aus München und aufs Land gezogen. Statt in einer Zweizimmerwohnung sollte ihr Kind in einer Doppelhaushälfte groß werden. Und jetzt: Krebs im Endstadium.

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Die Ärzte gaben ihr nicht länger als ein Jahr zu leben. Manuela P. sagt, sie habe diese Prognose damals schlicht überhört, ihr Mann erzählte ihr später davon. Für sie war klar: Sie wollte für ihr Baby da sein, für ihren Mann, die Familie. "Überleben, überleben", hat sie in ihr Notizbuch geschrieben. "Alles wurde zu einem Kampf ums Überleben." Manuela P. beginnt eine kräftezehrende Chemo- und Antikörpertherapie und bekommt Bestrahlungen, den Haushalt übernehmen die Großmütter und eine Haushaltshilfe. Im vergangenen Jahr folgt schließlich die Hirn-OP, danach wieder Bestrahlung und Chemotherapie. Seit zweieinhalb Jahren gelingt es Manuela P. so, den Krebs "im Zaum zu halten, mal besser und mal schlechter", wie sie sagt. Im blauen Sweatshirt und bequemer schwarzer Hose sitzt sie am Esstisch, die braun-grünen Augen wirken müde, wenn sie von der Dauertherapie mit zahlreichen Nebenwirkungen und Komplikationen berichtet. Das Leben mit Krebs sei eine Achterbahnfahrt für die ganze Familie, sagt sie.
Auf dem Teppichboden im Wohnzimmer ist eine Holzeisenbahn aufgebaut, ein großer Teddybär sitzt in der Sofaecke. Im Februar wird Petar drei Jahre alt. "Er gibt mir so viel Kraft", sagt die Mutter. Manuela P. staunt, wie schnell er sich entwickelt, inzwischen kann er kurze Sätze auf Deutsch und Rumänisch sprechen. Und auch seine motorischen Fähigkeiten zaubern ihr ein Lächeln ins Gesicht: Neulich hat er einen Apfel klein geschnitten.
Unter der Woche ist Petar bis 14 Uhr in der Krippe. Manuela P. macht derweil den Haushalt, kocht und organisiert ihre Arztbesuche. Um den Überblick zu behalten, hat sie eigens einen Jahreskalender dafür angelegt; es gibt darin nur wenige freie Tage. Außerdem schlägt sie sich mit Papierkram herum, mit Anträgen, E-Mails. Ende Oktober lief die Krankmeldung aus, sie wollte eine Verlängerung beantragen, musste aber zur Chemo. Erst sieben Tage später fiel es ihr wieder ein, jetzt hat sie sogenannte Fehltage, für die sie kein Geld von der Krankenkasse bekommt. Und für die zweieinhalb Wochen Reha, die sie nach der Operation gemacht hat, ist noch immer kein Übergangsgeld von der Rentenversicherung da. "Ich erreiche da einfach niemanden", sagt sie und schaut hinüber zu Alexandra Keller.
Die Familie wird von der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz betreut
Die Fachkraft für Kinderhospizarbeit von der Stiftung Ambulantes Kinderhospiz München (AKM) mit Sitz in Inning am Ammersee begleitet Manuela P. seit ihrem ersten Klinikaufenthalt. Zudem hilft Keller bei Formularen und Anträgen, hat eine psychische Betreuung vermittelt und eine Beratung für die Angehörigen veranlasst. Einmal in der Woche kommt außerdem eine ehrenamtliche Familienbegleiterin ins Haus, die je nach Bedarf mit Petar spielt oder für Manuela P. da ist. "Wir haben ein bisschen Ruhe reingebracht", sagt Keller. "Ich bin einfach froh, eine Nummer zu haben, wo ich jederzeit anrufen kann", sagt Manuela P.
Das Geld ist knapp geworden, seit Manuela P. krank ist. Sie bekommt nur eine kleine Rente, ihr Mann bestreitet den Lebensunterhalt der Familie. Anstatt zu reisen, fahren sie zu Ärzten und in Krankenhäuser. Statt Souvenirs aus fernen Ländern kaufen sie teure Medikamente. Regelmäßig müssen die beiden entscheiden, was nötiger ist: einkaufen oder tanken? Heizöl oder Urlaub? Wobei: Einen Familienurlaub zu dritt haben sie noch nie gemacht. Im vergangenen Jahr hat der Bruder von Manuela P. sie und die gemeinsamen Eltern für ein paar Tage nach Paris eingeladen. Sie zeigt die Fotos, die sie hinter Glas zusammengestellt hat. "Das war wunderschön." Vom SZ-Adventskalender hat sie sich ein Advents-Wochenende mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einem Hotel in Salzburg gewünscht. "Das stelle ich mir schön vor mit den vielen Lichtern."

Früher seien sie regelmäßig auf Mallorca gewesen und beim Skifahren. "Und Tanzen", sagt sie, das habe ihr auch immer Spaß gemacht. Daran ist momentan kaum zu denken, regelmäßig plagen sie Knochen- und Kopfschmerzen. Und mit wem sollte sie schon losziehen? Ihre Freundinnen und Freunde hätten sich zurückgezogen. "Sie konnten nicht mit dem Thema umgehen", erzählt Manuela P. traurig. Überhaupt seien viele Menschen mit ihrer Krankheit überfordert, "die gucken lieber weg". Aber sie wolle wahrgenommen werden. "Man braucht kein Mitleid, aber ein Lächeln oder eine Umarmung schon." So bleibt Manuela P. mit ihren Ängsten, Sorgen und kleinen Freuden meist alleine. Ihr Mann unterstütze sie, wo es nur geht. "Doch er hat ja genauso Angst."
Es tut ihr leid, dass ihr Sohn ihre Krankheit miterleben muss. Doch sie sage nie "Ich bin krank", sondern immer "Ich werde gesund". Und dann muss sie weinen: "Auch wenn ich weiß, dass ich nicht gesund werde." Es brauche ein Wunder, "um Zeit zu gewinnen", wie sie es formuliert. Sie lerne gerade, im Hier und Jetzt zu sein und den Augenblick zu genießen. Nicht immer leicht. Sie hat sich Glaubenssätze in ihr Büchlein notiert, die helfen sollen. Zum Beispiel "Fuck it, let's dance". Früher sei sie nicht so gewesen.
Aber früher, das ist weit weg.
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