Tourismus in Oberbayern:Im Schatten des Starnberger Sees

Tourismus in Oberbayern: Das Bahnhotel um 1903 in Herrsching, der heutige Andechser Hof.

Das Bahnhotel um 1903 in Herrsching, der heutige Andechser Hof.

(Foto: Archiv der Gemeinde Herrsching/Picasa)

Anders als das Nachbargewässer war der Ammersee lange kein attraktives Ziel für den Fremdenverkehr. Erst um 1900 entwickelte sich Herrsching zu einem Geheimtipp für Touristen - auch dank einer technischen Neuerung.

Von Linus Freymark

Im Sommer 1882 unternimmt die Münchnerin Maria Walser etwas, was wenige Jahre zuvor noch nicht möglich war: eine Dampferfahrt. Der Ausflug aus der Großstadt führt die damals Achtjährige zunächst "von Traubling durch das schöne Kienthal nach Herrsching", wie sie in ihren Aufzeichnungen schreibt. Von dort geht es weiter nach Stegen, weiter fährt Walser mit dem Dampfer über die Amper nach Grafrath. Auf der Route verkehrte seit 1880 die legendäre "Mooskuh". Seinen Spitznamen hat das Schiff wegen seines Geräuschs verpasst bekommen: Die Signalhupe röhrt wie eine Kuh, zudem führt die Route durch das Ampermoos. Mooskuh also, klarer Fall.

In ihren Aufzeichnungen erinnert sich Maria Walser - fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Ausflug an den Ammersee - an ein Manko, das ihrer Meinung nach auch in den 1920er Jahren noch immer nicht behoben ist. "Wie heute die Zug- und Dampferverbindung am Ammersee noch sehr zu wünschen übrig lässt, so war es vor 40-45 Jahren in noch erhöhtem Maße". Und genau das ist wohl der Grund, weshalb sich der Tourismus in Herrsching und der Ammersee-Region deutlich von dem Gebiet rund um den Starnberger See unterscheidet.

Der Entwicklung am östlichen Ammersee-Ufer von 1900 bis 1959 hat sich Anja Birner 2011 in ihrer Zulassungsarbeit für das Staatsexamen in Bayerischer Geschichte gewidmet. Auf Basis dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie ihren eigenen Forschungen hält die Leiterin des Herrschinger Gemeindearchivs Friedrike Hellerer nun Vorträge über den Fremdenverkehr in Herrsching. Die Historikerin hat mit "Die Herrschinger Seepromenade: Ein Lesebuch" selbst eine Schrift verfasst, die viele Quellen über den Tourismus in Herrsching enthält.

Tourismus in Oberbayern: Die Mooskuh verkehrte ab 1880 zwischen Grafrath und Stegen.

Die Mooskuh verkehrte ab 1880 zwischen Grafrath und Stegen.

(Foto: Johannes Simon)
Tourismus in Oberbayern: Die Historikerin Friedrike Hellerer leitet das Herrschinger Gemeindearchiv.

Die Historikerin Friedrike Hellerer leitet das Herrschinger Gemeindearchiv.

(Foto: Nila Thiel)

Der erste Teil von Hellerers Referat fand im September statt, der zweite folgte diesen Donnerstag. Es ist eine Reise zurück in Zeiten fernab des heutigen Massentourismus, in denen für viele die einzige Erholung die sogenannte Sommerfrische war. Und in denen so manche Entscheidung getroffen wurde, die Herrsching heute noch prägt.

1909 traf die Kommunalpolitik eine Entscheidung, die das Ortsbild bis heute prägt

Anders als der Starnberger See ist Herrsching wie der gesamte Ammersee erst relativ spät für den Fremdenverkehr erschlossen worden. Anders als in Starnberg und Umgebung bauten hier nur wenige Reiche ihre Villen und Landschlösser, hinzu kam die von Maria Walser bereits kritisierte Verkehrsanbindung.

Das änderte sich im Jahr 1903: Durch die Eröffnung der Bahnlinie waren die 31 Kilometer von München-Pasing nach Herrsching plötzlich machbar, die Entfernung stellte kein Hindernis mehr für einen Tagesausflug aus der Großstadt dar. Doch nicht nur die Münchner kamen zur Erholung ins Alpenvorland. Die Hitze, die schlechte Luft, dazu Typhus-Epidemien - wer es sich leisten konnte, floh seit den Anfängen der Industrialisierung in den Sommermonaten aus der Stadt. Auch Beamte und Angestellte konnten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein paar Tage Erholung leisten und mieteten sich bei örtlichen Fischern oder Bauern ein. Viele blieben ihren Gastgebern über Jahre treu und kamen immer wieder nach Herrsching. Für viele Einheimische waren die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr ein willkommenes und teilweise dringend benötigtes Zubrot.

Auch arbeitsrechtliche Reformen kurbelten die Tourismusbranche an: Ab 1875 erhielten etwa Beamte der Reichspost durchschnittlich acht Tage Urlaub. Die Sommerfrische, also ein paar Tage Entspannung in der näheren Umgebung und laut Birner eine "typisch deutsche Erholungsform", erfuhr Konjunktur. Immer mehr Menschen konnten sich diese Form des Urlaubs leisten, nicht zuletzt dank der durch die Eisenbahn gesunkenen Reisekosten. Die Arbeiterklasse blieb jedoch mehr oder weniger komplett davon ausgenommen. Besonders attraktive Ziele waren Orte in der Nähe von Großstädten, aber abseits der Vororte - so wie Herrsching. Da der Ort anders als die Region um den Starnberger See touristisch noch nicht so erschlossen war, waren Kurzreisen ans Ostufer des Ammersees auch für das Kleinbürgertum erschwinglich.

Von sogenanntem "Overtourism" ist Herrsching größtenteils verschont geblieben

Die Kommunalpolitik erkannte dieses Potenzial und versuchte, den Ort für den Fremdenverkehr attraktiv zu halten. Eine weitreichende Entscheidung trafen Bürgermeister und Gemeinderat im Jahr 1909, als sie sich dazu entschlossen, die Seepromenade nicht zu bebauen und sie stattdessen für Einheimische und vor allem Besucher zu erhalten. Dieser Beschluss hat bis heute gehalten: Die acht Kilometer machen das Ufer in Herrsching "zur längsten frei zugänglichen Seepromenade Deutschlands", so Birner.

Heute sind Herrsching und der Ammersee zwar durchaus ein beliebtes Reiseziel. Allerdings versprüht die Gegend "noch immer nicht den Glanz des Starnberger Sees", schreibt Birner. Das spiegelt sich auch in den Besucherzahlen, im oberbayerischen Vergleich geht es in Herrsching nach wie vor eher beschaulich zu.

Für die Autorin birgt das Vorteile für die Struktur der Gemeinde: Anderswo sind Gewerbe und Betriebe abgewandert und fast der gesamte Ort arbeitet im Fremdengewerbe. Auch von sogenanntem "Overtourism" ist Herrsching größtenteils verschont geblieben. Sicher, an den Sommerwochenenden kann sich einem ein anderer Eindruck aufdrängen. Aber verglichen mit anderen Ecken Oberbayerns ist der Tourismus in Herrsching doch noch moderat. Und so kommt Birner zu dem Schluss, dass "die vermeintliche Vergessenheit des Ammersees" im Laufe der Zeit zum Markenzeichen der Region wurde. Und das, obwohl die Anbindung deutlich besser ist als früher: Mit der S-Bahn kommt man recht schnell nach München, von anderen Ecken des Sees wie Dießen kommt man nach Augsburg. Maria Walser würde das wohl gefallen.

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