SZ Gute Werke Rückblick:Wenn die Mutter fehlt

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Die Schwestern vermissen ihre alleinerziehende Mutter sehr. (Foto: Imago)

Julia P. kümmert sich seit einem Schlaganfall ihrer alleinerziehenden Mutter um die jüngere Schwester. Die vielen Fahrten in die Pflegeeinrichtung belasten die Familienkasse.

Von Carolin Fries, Herrsching

Jeden Tag nach der Arbeit setzt sich Julia P. (Name und identifizierbare Angaben von der Redaktion geändert) ins Auto und fährt zu ihrer Mutter. Sie erzählt ihr dann, was alles passiert ist, seitdem die Mutter, 45 Jahre alt, nicht mehr zu Hause ist und wie groß ihre jüngere Schwester Angelina geworden ist, „größer als ich, sie wächst wie Unkraut“. Es sind stets Monologe, die Julia P. hält, während sie am Bett sitzt und die Hand ihrer Mutter hält. Nach einer Hirnblutung ist die Frau ein Pflegefall und wird nach mehreren Operationen und einer Reha seit knapp eineinhalb Jahren in einer intensivmedizinischen Einrichtung versorgt. Sie kann sich weder bewegen noch sprechen oder schlucken. Besucher nimmt sie optisch kaum wahr, „manchmal aber lächelt sie oder eine Träne läuft ihr über die Wange“, erzählt Julia P. „Dann werde auch ich emotional und muss mich kurz wegdrehen“, sagt die 27-Jährige. Ihre Mutter soll ihren Schmerz und ihre Sorgen nicht sehen.

Die SZ hat bereits im vergangenen Jahr über das Schicksal der Familie berichtet, seither hat sich der Gesundheitszustand der Mutter kaum verändert. Lediglich „einen kleinen Fortschritt“ will Julia P. bemerkt haben: „Sie lächelt jetzt manchmal, wenn sie mich sieht.“ Manchmal aber zeige sie auch gar keine Reaktion.

Nach ihren Besuchen fährt Julia P. nach Hause zu ihrer 14 Jahre alten Schwester. Meistens kochen sie sich ein Abendessen, manchmal gibt es eine Pizza aus der Tiefkühltruhe. „Ich vermisse das gute Essen von Mama“, sagt Angelina und lächelt beim Gedanken an deren Suppen und Eintöpfe. Doch der Moment währt nur kurz, dann ist das Mädchen wieder ernst und in sich gekehrt. „Sie spricht nicht so viel“, sagt Julia P., „das liegt sicher auch am Alter“.

Julia P. ist seit dem Unfall ihrer Mutter vor fast zwei Jahren nicht nur Angelinas Schwester, sie hat auch die Mutterrolle übernommen. Formell hat sie für die Mutter die gesetzliche Betreuung übernommen und für die Schwester die Vormundschaft übertragen bekommen. Im Alltag heißt das: Sie erledigt die Post und sämtliche Formalitäten, kommuniziert mit Ärzten und Pflegekräften, lernt mit der Schwester für die Schule, kümmert sich um Kleidung, Essen, Arzt- und Friseurtermine und „nervt, dass ich über den Islam lernen soll“, so Angelina. Julia P. lächelt. Auch das gehört nun einmal zu ihren Aufgaben.

Die Familie aus Herrsching ist muslimisch. Ihr Glauben helfe ihr sehr, die Situation überhaupt aushalten zu können, sagt Julia P. Im Gebet weine sie sehr viel, „da fühle ich mich verstanden“, sagt sie. Zudem würde sie darin bestärkt, geduldig und zuversichtlich zu bleiben. „Alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann“, zitiert sie aus dem Koran.

Ihr größter Wunsch ist es, dass die Mutter eines Tages wieder nach Hause kommen kann und dass sie dann stolz sein kann auf ihre Kinder. „Dafür gebe ich alles“, so die junge Frau. Es gebe nur wenige Tage, wo sie den Kopf hängen lasse, „vielleicht an einem von zehn“. Angelina tut sich da deutlich schwerer, doch ihre Schwester bemüht sich immer wieder, sie aufzubauen. „Ich bin sehr stolz auf sie“, sagt sie und streichelt dem Mädchen über den Kopf.

Bald hat Angelina Geburtstag, die Wünsche sind groß

Julia P. hat eine Lehre zur Hotelfachfrau gemacht, arbeitet aber seit vier Jahren für ein Kommunikationsunternehmen in München in der Kundenberatung. Zusammen mit dem Kindergeld reicht das Einkommen, um die Miete und den Lebensunterhalt zu bestreiten. „Wir leben sehr sparsam, das habe ich mir von meiner Mutter abgeschaut“, sagt sie. Die Mutter hat vor ihrem Schlaganfall als Reinigungskraft gearbeitet, das Geld war schon immer knapp.

Doch nun kommen die Benzinkosten für die Fahrten zur Mutter hinzu, etwa 44 Kilometer sind es mit dem Auto hin und zurück. Am Wochenende fahren die Geschwister in der Regel zusammen in die Einrichtung. Die Besuche zu reduzieren, kommt für Julia P. nicht infrage. Sie wolle sich stets vergewissern, dass ihre Mutter gut versorgt ist, dass die Therapien wie geplant stattfinden. Vor allem aber soll sich auch ihre Mutter sicher sein, dass es ihren Töchtern gut geht.

Das Hilfswerk der Süddeutschen Zeitung beteiligt sich an den Fahrtkosten und übernimmt ein Geschenk für Angelina. In zwei Wochen hat das Mädchen Geburtstag und große Wünsche, „das ist die Pubertät“, wie Julia P. weiß. Sie würde auch gerne eine Feier ermöglichen, doch sie könnten das nicht, solange ihre Mutter so krank sei. Abends, wenn Angelina im Bett ist, nehme sie sich bewusst Zeit für sich selbst.

Manchmal mache sie ein paar Sportübungen, manchmal schalte sie den Fernseher an. „Es ist schwierig, sich selbst nicht zu vergessen, wenn man funktionieren muss.“ Freunde und Bekannte würden ihr bei Problemen helfen, auch entfernte Verwandtschaft gäbe es. Doch eigentlich seien sie ziemlich alleine.

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