NS-Vergangenheit:Beklemmende Debatte

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Beklemmendes Szenario: Der Film "Zone of Interest" wurde bei der Oscarverleihung 2024 für den besten internationalen Film und den besten Ton ausgezeichnet. (Foto: Georgine Treybal)

Das Seefelder Breitwand-Kino zeigt den preisgekrönten Film „Zone of Interest“. Der liefert die Vorlage für eine spannende Diskussion über Herrschings schwierigen Umgang mit der Nazi-Zeit.

Von Patrizia Steipe, Seefeld

„Warum wurde Herrsching zu einem braunen Nest?“, lautete eine der Fragen an Kreisarchivarin Friedrike Hellerer. Eine weitere: „Befinden wir uns schon auf einer Vorstufe zum Nationalsozialismus?“. Die Bürgergemeinschaft Herrsching (BGH) hatte zur Filmvorführung in das Seefelder Breitwand-Kino geladen. Gezeigt wurde der oscarprämierte Film „Zone of Interest“. Jonathan Glazer beschreibt darin eine Idylle direkt neben den Mauern des Konzentrationslagers Auschwitz. Als Vorlage dienten Fotos der Familie des Lagerkommandanten Rudolf Höß.

Der Film zeigt einen fröhlichen Alltag mit Kindern, Blumengarten und Pool – das Grauen, das wenige Meter entfernt liegt, ist allgegenwärtig. Man hört Schüsse, Schreie, Schritte, den brummenden Ton des Krematoriums, sieht Rauch und Flammen aus dem Schornstein steigen und die Stacheldrahtmauer. Die Bilderbuchfamilie lebt jedoch ihr ganz „normales“ Leben und nimmt das alles gar nicht wahr. Der Schrecken wird ausgeblendet und sogar als gegeben und vorteilhaft akzeptiert.

Ein solcher Alltag spielte sich wohl an vielen Orten Deutschlands ab – so auch in Herrsching. Die Gemeinde am Ammersee, schon 1932 ein braunes Nest, hat viele Nazis angezogen: Zum Beispiel Hans Frank, bekannt als „Polen-Schlächter“, der hier ein kleines Haus besaß, aber nur selten vor Ort war.

Seine Frau Brigitte, heißt es, sei regelmäßig ins Ghetto von Krakau und Warschau zum „Einkaufen“ gefahren und dann mit gestohlenen Pelzmänteln zurückgekommen. Auch im Film sieht man Hedwig Höß, wie sie sich in einem angeeigneten Pelzmantel vor dem Spiegel dreht.

Archivarin Friederike Hellerer befasst sich schon seit Jahren mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Herrsching. (Foto: Georgine Treybal/Georgine Treybal)

„Es herrschten Verbindungen“, erklärte die promovierte Historikern Hellerer den etwa 50 Interessierten, die sich nach dem Film im Seefelder „Bräustüberl“ zur Diskussion über die NS-Vergangenheit in Herrsching eingefunden hatten. Moderatorin Claudia von Hirschfeld konnte nicht verstehen, dass man sich fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg „immer noch nicht an das Thema herantraut“. Dabei sei es mittlerweile die dritte Generation, die Fragen hat. „Wieso ist es so schwer, sachlich über die NS-Zeit zu sprechen?“, wunderte sich Hirschfeld.

Die Diskussionen über die Herrschinger Straßennamen „mit NS-Vergangenheit“ würden schließlich zeigen, dass das Thema den Menschen am Herzen liegt. Etwa 120 Bürger hatten sich an der Umfrage, wie man mit den belasteten Namen in der Ammersee-Gemeinde umgehen soll, beteiligt. Jetzt recherchiert Hellerer weitere Fakten, bevor der Gemeinderat eine Entscheidung trifft.

Die Ploetzstraße in Herrsching erinnert an den Mediziner Alfred Ploetz, Wegbereiter der Euthanasie. (Foto: Georgine Treybal)
Madeleine Ruoff galt jahrzehntelang als Wohltäterin für Herrsching. Sie hatte sich in der NS-Zeit aber vermutlich an arisierten Immobilien bereichert. (Foto: Georgine Treybal)

Sonderschullehrerin Heidi Körner möchte jedenfalls keinesfalls mit einer „Ploetzstraße“ leben müssen. Der Arzt Alfred Ploetz, der auf Gut Rezensried zwischen Herrsching und Breitbrunn gewohnt hat, gilt als Wegbereiter der Euthanasie. „Bei uns in Breitbrunn leben die Menschen doch gerne mit Behinderten zusammen“, versicherte Körner. Die einstigen Täter und deren Taten einfach zu vergessen, sei keine Lösung, lautete eine andere Meinung. Man solle viel mehr den Straßennamen Tafeln mit Erläuterungen beifügen.

Statt nur an die Täter zu denken, könnte man an Personen erinnern, die im Widerstand tätig waren, lautete ein Vorschlag. „Völlig richtig“, erwiderte Hellerer, „aber schwierig“. Biografien und Zeitzeugenaussagen seien häufig für wissenschaftlich fundierte Studien nicht zu gebrauchen, da sie nicht objektiv und oftmals auch geschönt seien. Nicht immer seien die Akten in den Archiven vollständig. Sie kenne einige Tagebücher mit herausgerissenen Seiten aus dieser Zeit, sogar Gemeinderatsprotokolle seien auf diese Art „bereinigt“ worden.

In Seefeld entwickelte sich anlässlich der Filmvorführung von "Zone of Interest" eine spannende Diskussion mit Moderatorin Claudia von Hirschfeld (li.). (Foto: Georgine Treybal)

Sicher sei jedenfalls, dass im Landkreis Starnberg, anders als in anderen Regionen, die „katholischen Bauern auf dem Land am resistentesten gegen die Nazis waren“, wusste Hellerer. Dabei hat der Landkreis Starnberg durchaus Opfer des Nationalsozialismus zu beklagen. Zwar fehlte eine große jüdische Community, bis zu 25 Juden könnten dennoch betroffen gewesen sein, dazu 50 Euthanasieopfer und 200 Zwangssterilisierte.

Fritz Reinhardt ließ 1935 die Reichsfinanzschule in Herrsching errichten. (Foto: Nila Thiel/Repro aus dem Archiv Herrsching)
Der Reichsadler prangt noch immer am Gebäude, das Hakenkreuz wurde entfernt: Die einstige Reichsfinanzschule in Herrsching wird seit Jahren als Beamtenfachhochschule genutzt. Ihre Zukunft ist ungewiss. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Was die Parallelen zu früher betrifft, so hätten die Rednerschulen von Fritz Reinhardt, der auch die Herrschinger Reichsfinanzschule errichten ließ, heute in „Tiktok“ ihre Analogie, so Hellerer. Reinhardt, der in Herrsching gewohnt hatte, hatte immerhin bis zu 8000 Redner ausgebildet, die dann die Nazi-Ideologie in Deutschland verbreiteten. „Das hat die Nazis groß gemacht“, glaubt Hellerer – und auch in Herrsching seine Wirkung entfaltet: Vorgefertigte Versatzstücke für populistische Reden, die modular verwendet werden können, würden heute wie damals ihren Zweck nicht verfehlen.

Ob das bereits Vorstufen einer erneuten Nazifizierung seien, maße sie sich als Historikerin nicht an zu beantworten. Zumindest mit einer „Fritz-Reinhardt-Straße“ muss sich der heutige Gemeinderat nicht mehr beschäftigen: Sie heißt heute Seestraße.

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