„Warum wurde Herrsching zu einem braunen Nest?“, lautete eine der Fragen an Kreisarchivarin Friedrike Hellerer. Eine weitere: „Befinden wir uns schon auf einer Vorstufe zum Nationalsozialismus?“. Die Bürgergemeinschaft Herrsching (BGH) hatte zur Filmvorführung in das Seefelder Breitwand-Kino geladen. Gezeigt wurde der oscarprämierte Film „Zone of Interest“. Jonathan Glazer beschreibt darin eine Idylle direkt neben den Mauern des Konzentrationslagers Auschwitz. Als Vorlage dienten Fotos der Familie des Lagerkommandanten Rudolf Höß.
Der Film zeigt einen fröhlichen Alltag mit Kindern, Blumengarten und Pool – das Grauen, das wenige Meter entfernt liegt, ist allgegenwärtig. Man hört Schüsse, Schreie, Schritte, den brummenden Ton des Krematoriums, sieht Rauch und Flammen aus dem Schornstein steigen und die Stacheldrahtmauer. Die Bilderbuchfamilie lebt jedoch ihr ganz „normales“ Leben und nimmt das alles gar nicht wahr. Der Schrecken wird ausgeblendet und sogar als gegeben und vorteilhaft akzeptiert.
Ein solcher Alltag spielte sich wohl an vielen Orten Deutschlands ab – so auch in Herrsching. Die Gemeinde am Ammersee, schon 1932 ein braunes Nest, hat viele Nazis angezogen: Zum Beispiel Hans Frank, bekannt als „Polen-Schlächter“, der hier ein kleines Haus besaß, aber nur selten vor Ort war.
Seine Frau Brigitte, heißt es, sei regelmäßig ins Ghetto von Krakau und Warschau zum „Einkaufen“ gefahren und dann mit gestohlenen Pelzmänteln zurückgekommen. Auch im Film sieht man Hedwig Höß, wie sie sich in einem angeeigneten Pelzmantel vor dem Spiegel dreht.
„Es herrschten Verbindungen“, erklärte die promovierte Historikern Hellerer den etwa 50 Interessierten, die sich nach dem Film im Seefelder „Bräustüberl“ zur Diskussion über die NS-Vergangenheit in Herrsching eingefunden hatten. Moderatorin Claudia von Hirschfeld konnte nicht verstehen, dass man sich fast 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg „immer noch nicht an das Thema herantraut“. Dabei sei es mittlerweile die dritte Generation, die Fragen hat. „Wieso ist es so schwer, sachlich über die NS-Zeit zu sprechen?“, wunderte sich Hirschfeld.
Die Diskussionen über die Herrschinger Straßennamen „mit NS-Vergangenheit“ würden schließlich zeigen, dass das Thema den Menschen am Herzen liegt. Etwa 120 Bürger hatten sich an der Umfrage, wie man mit den belasteten Namen in der Ammersee-Gemeinde umgehen soll, beteiligt. Jetzt recherchiert Hellerer weitere Fakten, bevor der Gemeinderat eine Entscheidung trifft.
Sonderschullehrerin Heidi Körner möchte jedenfalls keinesfalls mit einer „Ploetzstraße“ leben müssen. Der Arzt Alfred Ploetz, der auf Gut Rezensried zwischen Herrsching und Breitbrunn gewohnt hat, gilt als Wegbereiter der Euthanasie. „Bei uns in Breitbrunn leben die Menschen doch gerne mit Behinderten zusammen“, versicherte Körner. Die einstigen Täter und deren Taten einfach zu vergessen, sei keine Lösung, lautete eine andere Meinung. Man solle viel mehr den Straßennamen Tafeln mit Erläuterungen beifügen.
Statt nur an die Täter zu denken, könnte man an Personen erinnern, die im Widerstand tätig waren, lautete ein Vorschlag. „Völlig richtig“, erwiderte Hellerer, „aber schwierig“. Biografien und Zeitzeugenaussagen seien häufig für wissenschaftlich fundierte Studien nicht zu gebrauchen, da sie nicht objektiv und oftmals auch geschönt seien. Nicht immer seien die Akten in den Archiven vollständig. Sie kenne einige Tagebücher mit herausgerissenen Seiten aus dieser Zeit, sogar Gemeinderatsprotokolle seien auf diese Art „bereinigt“ worden.
Sicher sei jedenfalls, dass im Landkreis Starnberg, anders als in anderen Regionen, die „katholischen Bauern auf dem Land am resistentesten gegen die Nazis waren“, wusste Hellerer. Dabei hat der Landkreis Starnberg durchaus Opfer des Nationalsozialismus zu beklagen. Zwar fehlte eine große jüdische Community, bis zu 25 Juden könnten dennoch betroffen gewesen sein, dazu 50 Euthanasieopfer und 200 Zwangssterilisierte.
Was die Parallelen zu früher betrifft, so hätten die Rednerschulen von Fritz Reinhardt, der auch die Herrschinger Reichsfinanzschule errichten ließ, heute in „Tiktok“ ihre Analogie, so Hellerer. Reinhardt, der in Herrsching gewohnt hatte, hatte immerhin bis zu 8000 Redner ausgebildet, die dann die Nazi-Ideologie in Deutschland verbreiteten. „Das hat die Nazis groß gemacht“, glaubt Hellerer – und auch in Herrsching seine Wirkung entfaltet: Vorgefertigte Versatzstücke für populistische Reden, die modular verwendet werden können, würden heute wie damals ihren Zweck nicht verfehlen.
Ob das bereits Vorstufen einer erneuten Nazifizierung seien, maße sie sich als Historikerin nicht an zu beantworten. Zumindest mit einer „Fritz-Reinhardt-Straße“ muss sich der heutige Gemeinderat nicht mehr beschäftigen: Sie heißt heute Seestraße.