Millionen sehen Gregor Gysi in TV-Talkshows, hören ihn im Bundestag, lesen seine Bücher und Interviews. Schwer vorstellbar, dass der brillante Redner, Bundestagsabgeordnete, Rechtsanwalt, Politiker der Linken, Autor und Moderator im kleinen Gemeindesaal der evangelischen Drei-Seen-Gemeinde Herrsching mit dem Schülersprecher des Christoph-Probst-Gymnasiums (CPG) in Gilching, Noah Flämig, diskutiert. Aber Diakon Hans-Hermann Weinen erhielt den Tipp aus seinem Team: „Lad den Gysi mal ein, der ist gut.“ Und tatsächlich: Gysi kam. Er bescherte den rund 100 Zuhörern einen vergnüglichen Abend voller Anekdoten. Den Jungen im Publikum gab er praktische Lebensratschläge. Gysi weiß, was ankommt und knallt.
Noah Flämig, 18 Jahre alt, engagiert sich in der evangelischen Jugendarbeit, kämpft gegen Rassismus und für das Klima. „Es werden schwierige Zeiten auf uns zukommen“, sagte er angesichts der Hiobsbotschaften aus aller Welt. Flämig spannte den Bogen von der zerstörerischen Gewalt des Hurrikans „Milton“ bis zum Eimer im Flur des Gymnasiums, der dort steht, weil das Dach tropft und kein Geld für Reparaturen da ist. Gysi, der als Anwalt einen „Klimakleber“ in Berlin verteidigt hatte, versteht die Sorgen der Jugend. Protest sei „völlig richtig“, aber „ihr müsst die Mehrheit mitnehmen“. Verschmitzt beschrieb er das Szenario von Klimaklebern, die sich vor Bundestagsgebäuden festkleben, sodass nicht Arbeitnehmer zu spät in die Arbeit, sondern Beamte später nach Hause kommen – so etwas hätte garantiert mehr Sympathie in der Öffentlichkeit gebracht.
Gysi riet dem Vertreter der Enkelgeneration: „Du musst selbst zupacken und auch andere dazu bringen. Wenn keine Partei passt, gründet eine Neue – nur nicht so eine blöde wie die AfD.“ Für eine politische Karriere empfahl er: „Erst acht Jahre in den Bundestag, dann acht Jahre raus und etwas anderes arbeiten, dann wieder mit Lebenserfahrung hinein.“ Sonst laufe man Gefahr, in seinem kleinen Kreis zu verhaften. Und Geduld muss man haben. „Ich war der Erste, der noch in Bonn den flächendeckenden Mindestlohn vorgeschlagen hat“, erzählte Gysi. Erst ganz allmählich habe sich der Zeitgeist so geändert, „dass sich die Regierung dem nicht mehr widersetzen konnte“. „So kann man Gesellschaft verändern.“
Moderator Weinen hatte sich gut vorbereitet. Dicht beschriebene Blätter mit komplexen und abstrakten Gedanken lagen vor ihm. Resilienz, Demokratie, sozialisierter Wohlstand – all das sprach er an. Für Gysi waren das Stichworte, die er, ganz Entertainer, locker, respektlos und amüsant bearbeitete. Natürlich gab es Seitenhiebe in Richtung Regierung, beziehungsweise ehemaliger Regierung. „Überfordert“ seien sie und wegen der Fehler bei dem Flüchtlingsthema und der Diskreditierung der Impfgegner während der Corona-Zeit Wegbereiter für den Erfolg der AfD. Auch bei Themen wie „Nato“, „Bildungsgerechtigkeit“, „Energiekrise“, „Preissteigerungen“: nichts als „Stümperei“.
Auch Glaubensgemeinschaften hätten ein großes Potenzial, sagt Gysi
„Nicht die Regierung gestaltet, sondern die Regierung wird getrieben“, kritisierte der Gesprächsgast. Ein Phänomen, das sich durch die Jahrzehnte in Deutschland zieht. Nur die Bundeskanzler Konrad Adenauer mit seiner Westintegration, Willy Brandt mit seiner Entspannungspolitik und Helmut Kohl mit seiner europäischen Integration seien Gestalter gewesen. „Es gäbe eine einzige Regierung, die nicht überfordert wäre: eine unter meiner Leitung“, so Gysi, der damit die Lacher auf seiner Seite hatte. Bei alldem Negativen nicht den Humor verlieren? Kein Problem. Gysi, 1,64 Meter groß, hatte gleich drei Witze auf Lager. Zwei aus der alten DDR und einen über sich: „Norbert Blüm und ich gehen in eine Kneipe. Dem Wirt rufen wir zu: Zwei Kurze. Der antwortet: Das sehe ich, aber was wollt ihr trinken?“
Was die Kirchen betrifft, so gab sich Gysi als Agnostiker zu erkennen, bescheinigte den Glaubensgemeinschaften aber ein großes Potenzial, „ohne sie hätte man keine allgemein verbindliche Moral“. Hier würden sich Menschen treffen, die ansonsten keinen Kontakt hätten. „Vor Gott sind alle Menschen gleich“, stimmte Flämig zu. Die Gleichheit der Menschen, das gefällt auch dem Linken-Politiker. Durch den sozialen und kulturellen Austausch könne außerdem viel bewegt werden.
Ein wenig Polemik muss bei Gysi immer sein. Wenn er vor der Mittelschicht in Herrsching über die Milliardäre mit ihren griesgrämigen Mienen lästert, klatscht das Publikum Beifall. Nur Erben könnten sich heute etwas leisten, fand Flämig, und Gysi fügte hinzu, dass es sogar 37 Milliardäre in Deutschland mehr als vor zwei Jahren sind. Die Lösung: eine gerechtere Verteilung der Steuern. Wenn die Schere aber weiter auseinandergehe, „dann bricht einmal über euren Enkelkindern alles zusammen“, das erkläre er den Milliardären. Die Enkelkinder führt er übrigens bewusst an. Die sind klein und süß, das emotionalisiert dann besonders.