Herrsching:Gemeinsam leben, gemeinsam pflegen

Studenten-WG

In der WG, wie sie sich Samuel Flach aus Herrsching vorstellt, soll keiner ausgegrenzt werden.

(Foto: dpa)

Ein junger Mann aus Herrsching will inklusive Wohngemeinschaften etablieren. Aber das ist nicht so einfach. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen

Von Thorben Pollerhof, Herrsching

Es ist nur ein kleiner Konferenzraum, in dem sich der Verein "Gemeinwohlwohnen" mindestens einmal im Monat trifft, um die neuesten Entwicklungen zu besprechen. Es sind auch nur acht Leute, die diesmal zum Treffen gekommen sind. Aber zusammen wollen sie das inklusive Wohnen in München revolutionieren. An ihrer Spitze: Samuel Flach und Taron Geißler.

Flach ist in Herrsching groß geworden. Seit 2011 sitzt er nach einem Unfall während seines Zivildienst-Aufenthalts in Uganda querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Jetzt studiert er in München Ethnologie. Und hat, unabhängig von der Behinderung, den Wunsch, mit anderen Menschen in einer Wohngemeinschaft zu wohnen. Zuerst ist er ins Studentenwohnheim eingezogen. Dort, sagt Flach, habe das System mit einem regulären Pflegedienst aber seine Grenzen und sei sogar entwürdigend. "Ich konnte selber nicht entscheiden, wann ich aufstehen oder aufs Klo gehen will. Das ist kein Zustand für einen erwachsenen Menschen." Deswegen hat er das zweite Zimmer seiner Wohnung untervermietet. Dabei trägt er die Miete komplett selbst. Der Mieter hilft ihm dafür im Alltag.

Zusätzlich hat er mit Taron Geißler einen Assistenten, der gleichzeitig zweiter Vorsitzender des Vereins ist. Geißler ist in Äthiopien geboren und als Adoptivkind bei deutschen Eltern aufgewachsen. Er ist gelernter Krankenpfleger und arbeitet seit mittlerweile drei Jahren mit Flach zusammen. Vorher hat er jahrelang in verschiedenen Krankenhäusern gearbeitet und bezeichnet das strukturelle Pflegen, besonders für jüngere Menschen, als "Killer".

Deswegen wollen sie zusammen das Wohnen in einer inklusiven WG revolutionieren - und die Bewohner um Flüchtlinge erweitern. Das Grundkonzept lautet: Behinderte, Nicht-Behinderte und Geflüchtete leben zusammen in einer WG. Die behinderten Bewohner nehmen dabei ihre Gelder von der Krankenkasse zusammen, um die Miete der anderen Mitbewohner zu erleichtern. Diese WG soll sich aus neun Leuten zusammensetzen: jeweils drei von jeder Art. Seit Dezember 2016 existiert deshalb der Verein "Gemeinwohlwohnen". Und schon davor hat Flach "an verschiedene Türen geklopft", wie er selbst sagt. Bei der Stadt München, Vereinen, Stiftungen.

Dabei gehe es oft auch um alltägliche Dinge, die keinen Pflegedienst brauchten, wie das Austauschen einer Druckerpatrone, erklärt Geißler das Konzept. Flüchtlinge könnten dann ebenfalls im Alltag unterstützt werden, beispielsweise bei Behördengängen oder dem Erlernen der deutschen Sprache.

Das Pflegekonzept ist das komplizierteste Thema. Zurzeit diskutieren die Jungs eine Mischung aus interner und externer Pflege. So sollen die internen, nicht-behinderten Mitbewohner an verschiedenen Tagen in der Woche Assistenzdienst leisten. Die 30 Tage des Monats würden dann auf sechs Schultern verteilt werden. "Jeder Mitbewohner müsste also an fünf Tagen im Monat garantiert da sein", sagt Flach. Sicher ist nur eins: Es soll flexibel bleiben. Dazu soll noch, neben Geißler, ein zweiter externer, professioneller Pfleger angestellt werden. Auch ein sogenannter "Bufdi", also jemanden, der einen Bundesfreiwilligendienst ausübt, könnte das zehnte geplante Zimmer beziehen. Zusätzliches Geld soll auch über die Arbeitsassistenz fließen. Die behinderten Mitbewohner sollen in der Verwaltung von "Gemeinwohlwohnen" angestellt sein und mithelfen.

Die Hochrechnungen, die Flach und Geißler dafür vorgenommen haben, gehen auf, sagen sie selbst. Trotzdem sei das Ganze natürlich ein "Experiment", relativiert Flach. Deswegen können die beiden auch nicht verneinen, dass es bei der Auswahl der nicht-behinderten Mitbewohner auch um die Summe geht, die sie mit in die WG bringen. "Der Anspruch soll natürlich sein, dass jeder dort wohnen kann, aber es muss mit der Realität eben vereinbar sein", sagt Flach.

Das Hauptproblem ist dabei die Suche nach dem passenden Gebäude oder Grundstück. Und das fängt schon bei der Suche nach dem passenden Ansprechpartner bei der Stadtverwaltung an. "Das sei eine tolle Idee, hören wir dann immer nur, bevor sie sagen, sie seien dafür nicht zuständig", beklagt sich Flach. Von der Stadt selbst hätte er sich mehr Unterstützung gewünscht. Mit ihrem Konzept konnten die beiden bereits verschiedene Förderungen für sich gewinnen, trotzdem steht das Projekt noch am Anfang. Flach sieht München als idealen Ort, um das Projekt zu realisieren. "Uns imponiert hier besonders die Barrierefreiheit", erklärt Geißler. "Das ist in den Niederlanden oder Dänemark viel selbstverständlicher." Irgendwann wollen die Jungs unter dem Banner ihres Vereins auch Kulturveranstaltungen planen, ein Café eröffnen oder eine Beratungsstelle für behinderte Flüchtlinge einrichten.

Das Wort "sollen" kommt in diesem Text sehr oft vor. Das liegt daran, dass der Verein von Flach und Geißler immer noch in den Kinderschuhen steckt. Vieles ist noch ungewiss und auch die Abläufe lassen noch etwas Struktur vermissen. Trotzdem lassen sich die beiden jungen Männer nicht von ihrem Weg abbringen, sie wollen inklusive Wohnegemeinschaften revolutionieren.

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