Flüchtlingsintegration mit Modellcharakter:Blabla im Kurparkschlösschen

Flüchtlingsintegration mit Modellcharakter: Treffpunkt im Hinterhof: Thomas Prosperi, Johanna Neubauer-da Luz und Silvana Prosperi (von links) sind seit 2015 im Verein "Wir schaffen das" aktiv und vermitteln nun auch zwischen Ukrainerinnen und Geflüchteten aus dem globalen Süden.

Treffpunkt im Hinterhof: Thomas Prosperi, Johanna Neubauer-da Luz und Silvana Prosperi (von links) sind seit 2015 im Verein "Wir schaffen das" aktiv und vermitteln nun auch zwischen Ukrainerinnen und Geflüchteten aus dem globalen Süden.

(Foto: Arlet Ulfers)

Der interkulturelle Treffpunkt in Herrsching führt Geflüchtete der ersten Welle 2015 und Ukrainerinnen zusammen - und feiert nun das erste große Fest nach der Pandemie.

Von Armin Greune

April 2022: Eine Frau mit vier Kindern spricht einen etwa vierzigjährigen Mann an. Sie sind gerade aus der Ukraine angekommen, suchen verzweifelt nach "Aldi?" oder "Lidl?" - nur so viel ist zu verstehen. Der Mann, hier A. genannt, ist auch geflüchtet, er kam 2016 aus Kabul über den Iran, lebt aber schon mit Frau und Kindern zwei Jahre im Ort. Er weiß, dass die Discounter nicht in Herrsching vertreten sind: "Rewe!" schlägt A. als Alternative vor. Kaum vorhandenes Deutsch prallt auf Minimalenglisch. Nach einigen gestenreichen, radebrechenden Verständigungsversuchen zieht der Asylsuchende los, die ukrainische Familie im Schlepptau. Die nun folgende, mehrstündige Tour führt durch diverse Supermärkte, von der Industriestraße zum Bahnhof, dort weiter mit dem Bus nach Lochschwab und zum Quartier der Neuangekommen. Zurück in den Ort A. geht A. zu Fuß, alleine mit einem leeren, scheppernden Einkaufswagen.

Zauberworte unter Fremden, die sich gegenseitig helfen: "Krieg", "arme Frau", "Hunger" und "Ukraine"

Zweimal ist es ihm zuvor mit Wortbrocken wie "Krieg", "arme Frau" , "Hunger" und "Ukraine" gelungen, zugunsten der Kriegsflüchtlinge strenge deutsche Bestimmungen aufzuweichen. Zunächst, als es an der Supermarktkasse Ärger gab, weil etwa ein Karton voller Speiseölflaschen, 18 Säcke Kartoffeln, 20 Päckchen Kartoffelteig oder zehn Tiefkühlhähnchen als Hamsterkäufe gelten könnten und eigentlich nicht gestattet sind. Und dann - nach diversen gescheiterten Versuchen ein Taxi aufzutreiben - im 921er Bus, wo der Fahrer die Beförderung der Gruppe samt turmhoch beladenem Einkaufswagen zunächst ordnungsgemäß ablehnt. Die gut zwanzig an der Kasse gekauften Tragetüten hatten nur gereicht, die Ladung der anderen beiden Einkaufswagen zu verstauen. A.s verbale Erklärungsversuche kommen beim Busfahrer zwar nur partiell an: "Ich nix verstehn, ich Serbe". Und dann nimmt er die ganze Gruppe doch im Bus mit.

Für die Wahrhaftigkeit dieser Geschichte legt Thomas Prosperi die Hand ins Feuer. Selbst wenn er sie zum wiederholten Mal erzählt, muss er immer noch am lautesten lachen. Schon weil der hauptberufliche Kabarettist und ehrenamtliche Sprachlehrer A.s begrenzten deutschen Wortschatz besser kennt als jeder andere: Die Kenntnisse hat sich der afghanische Familienvater vor allem in Prosperis Kursstunden im Herrschinger "Blabla" zugelegt.

Im Cafe "Blabla" an der Bahnhofstraße herrscht praktisch rund um die Uhr Betrieb

In dem interkulturellen Treffpunkt an der Bahnhofstraße herrscht praktisch rund um die Uhr Betrieb. An diesem Vormittag hat die Herrschingerin Brigitte Borst zwei Ukrainerinnen und einer Afghanin die deutsche Sprache nähergebracht. Gerade begrüßt Johanna Neubauer-da Luz einen der vier jungen Männer, die sie vor sieben Jahren aufgenommen hat. Die Brüder waren von den Eltern zur Flucht aus Afghanistan regelrecht genötigt worden; inzwischen sind sie Waisen, beide Eltern sind in der Heimat schwer erkrankt und gestorben. Zwölf war der jüngste Sohn, als er nach Herrsching in Neubauers Obhut kam. Pubertät, Verlust der Eltern und die Eingewöhnung in einen völlig fremden Kulturkreis: Es war für alle eine schwere Zeit, sagt Neubauer. Nur zwei der Jungs schafften den Schulabschluss, "aber jetzt haben alle Arbeit, da bin ich sehr froh." Wer mehr dazu erfahren will, sollte im Internet den Radio-Podcast "Johanna und die fünf Brüder aus Afghanistan" anhören.

Flüchtlingsintegration mit Modellcharakter: Im interkulturellen Treffpunkt "Blabla" lernen die Ukrainerinnen Lina Solokhova und Tina Rosovska deutsch mit Brigitte Borst (links).

Im interkulturellen Treffpunkt "Blabla" lernen die Ukrainerinnen Lina Solokhova und Tina Rosovska deutsch mit Brigitte Borst (links).

(Foto: Arlet Ulfers)

Etwa 50 Geflüchtete finden sich mehr oder weniger regelmäßig im Blabla ein. Seit Kriegsausbruch ist ein knappes Dutzend Ukrainerinnen dazugekommen, etwa doppelt so viele sind über soziale Medien mit den Herrschinger Helfern vernetzt. Mittwochabend und Sonntagnachmittag steht das Haus allen offen, Freitagvormittag ist der Treffpunkt allein den Frauen vorbehalten, einmal im Monat findet ein Mal- und Bastelworkshop für Kinder statt. Ansonsten organisiert der Trägerverein "Wir schaffen das" dort Nachhilfestunden, Sprach- und Computerkurse.

Außerdem bieten Vereinsmitglieder Unterstützung im Umgang mit Behörden oder beim Ausfüllen von Formularen an und versuchen, Wohnungen, Jobs oder Therapieplätze zu vermitteln. Und leisten manchmal in akuten Notfällen auch Erste Hilfe im bürokratischen Sinn. So wie kürzlich, als einem Geflüchteten aus dem Irak der sofortige Verlust der Arbeitsstelle im Starnberger Klinikum drohte: Seine Duldung war abgelaufen, er hatte seinen Aufenthaltstitel nicht rechtzeitig verlängert, weil das Landratsamt den Termin dafür versehentlich auf einen Feiertag gelegt hatte. Mit einigen Telefongesprächen ließ sich die Kündigung im letzten Moment noch abwenden, berichtet Silvana Prosperi, die sich, ebenso wie ihr Mann, bei "Wir schaffen das" engagiert.

2020 konnte der Verein das blaue Häuschen an der Bahnhofstraße beziehen

Dass der Herrschinger Verein auch sieben Jahre nach der historischen Grenzöffnung und über alle Pandemiebeschränkungen hinweg noch erfolgreich Integrationsarbeit leisten kann, hat viele Ursachen. Schon bevor im Herbst 2015 das erste Containerdorf des Landkreises bezugsfertig war, nahm Neubauer Kontakt mit Flüchtlingen in der Weßlinger Turnhalle auf. Sie wollte die gerade Angekommenen für die Teilnahme am multikulturellen Kulturprogramm gewinnen, die Neubauer zur Herrschinger "Woche der Toleranz" organisierte. Daraus entwickelte sich ein regelmäßiger Sonntagstreff von Asylsuchenden mit Bürgern in der "Herrschinger Insel". Bereits im April 2016 bezog das erste Café Blabla im damaligen Breitwand-Kino Quartier und bereicherte dort mit Festen, Ausstellungen und Konzerten das kulturelle Leben in der Gemeinde. Nachdem das Kino schloss, kam man vorübergehend im BRK-Heim in der Keramikstraße unter.

Anfang 2020 konnte das schnuckelige Häuschen in der Bahnhofstraße 23 bezogen werden, "übrigens das erste blaue Haus in Herrsching", wie Neubauer lachend betont. Als der Einzug am 13. März mit einem Kulturprogramm gefeiert werden sollte, kam Corona dazwischen. Nach einer langen Pause ist es nun endlich so weit: Am Sonntag, 3. Juli, findet wieder ein interkulturelles Blabla-Fest statt - und zwar nicht im Hinterhof an der Bahnhofstraße, sondern im wesentlich feudaleren Rahmen des Kurparkschlösschens, wo schon 2015 das erste Willkommensfest stattfand. Gemeinde und Kulturverein Herrsching stellen es von 17 Uhr an zur Verfügung. In der Villa oder auf einer Bühne wird die Express Brass Band spielen. Das Münchener Kollektiv hat sich seit der Gründung 1999 einer Mischung aus dem Afrobeat Fela Kutis, dem Jazz Sun Ras und des Art Ensembles of Chicago sowie der Weltmusik der Gruppe Embryo verschrieben. Außerdem wird Comedian und Poetry-Slammer Hani Who erwartet: Der gebürtige Afghane ist im Iran aufgewachsen und lebt seit 2010 in Deutschland. Der Herrschinger Perkussionist und Hornist Ludwig Himpsl (Unterbiberger Hofmusik, Bavaschôro) tritt mit dem aus Syrien stammenden Oud-Meister Abathar Kmash auf. Außerdem sind kürzere Gastspiele der Guitareros und des Dießener Oud-Spielers Refaat vorgesehen, die Moderation übernehmen Silvana und Thomas Prosperi alias Faltsch Wagoni. Und natürlich wird, wie schon zuvor bei den legendären Blabla-Festen im Kino, wieder ein buntes, vielfältiges Buffet mit internationalen Spezialitäten aufgefahren.

Flüchtlingsintegration mit Modellcharakter: Im Kurparkschlösschen feiert der Verein "Wir schaffen das" am Sonntag das erste internationale Kulturfest seit dem Pandemieausbruch 2020.

Im Kurparkschlösschen feiert der Verein "Wir schaffen das" am Sonntag das erste internationale Kulturfest seit dem Pandemieausbruch 2020.

(Foto: Georgine Treybal)

"Die Kultur ist ja insgesamt in den letzten zweieinhalb Jahren zu kurz gekommen, aber auch der so wichtige Austausch zwischen den Menschen", sagt Silvana Prosperi. Der Austausch zwischen den bereits vor Jahren Geflüchteten und den Neuankömmlingen aus der Ukraine ist in Herrsching schon angelaufen: Etwa im Rahmen des Frauenprojekts "Lebenswirklichkeit in Bayern", das der Freistaat als eine von landesweit 18 Integrations-Initiativen unterstützt. So fanden Familienausflüge zu Bernd Zimmers Kunstaktion "Stoa 169" bei Polling oder eine Wanderung von Widdersberg nach Seefeld statt. "Ich habe selten so traurige Menschen getroffen, wie die aus der Ukraine Geflüchteten", erzählt Silvana Prosperi. Aber auch für die afghanischen Frauen sei die Vorstellung, dass die Männer der Ukrainerinnen ihr Heimatland nicht verlassen dürfen, entsetzlich gewesen.

Manche Syrer, Afghanen oder Eriträer fühlen sich gegenüber den Neuankömmlingen aus der Ukraine wie Flüchtlinge zweiter Klasse

Ob die Episode mit dem selbst noch recht fremden Fremdenführer A. repräsentativ ist für den Umgang der Geflüchteten der Jahre 2015/2016 mit denen der Vertriebenen von 2022? Sie habe auch schon gehört, dass manche Syrer, Afghanen oder Eriträer in Deutschland sich angesichts der neuen Willkommenskultur im Nachhinein ein wenig wie Asylbewerber zweiter Klasse fühlten. "Manche Türen werden für Ukrainer schneller geöffnet", aber Silvana Prosperi kann das nur positiv bewerten: "Es tut gut zu sehen, dass Leute immer noch bereit sind, zu helfen. Und es ist unsere Aufgabe hier, keine Differenzen aufkommen zu lassen." Ein grundsätzlicher Unterschied bestehe freilich zwischen den beiden Flüchtlingsgruppen: Die meisten Menschen aus der Ukraine wollten nicht auf Dauer hier bleiben: "Die ersten vier hegen schon Pläne, bald wieder zurückzufahren", weiß Prosperi.

Zu A.s Odyssee mit der ukrainischen Familie kann ihr Mann noch eine letzte Pointe beisteuern: Natürlich waren die Ukrainerinnen für seine Hilfe sehr dankbar und wollten sich in Lochschwab nicht lumpen lassen. Sie boten ihrem Begleiter Tee oder Kaffee, Gebäck und mehr an. Doch A. musste ablehnen, denn es war Ramadan.

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