Einzelhandel in Herrsching:Fahrradleidenschaft in vierter Generation

Lesezeit: 4 Min.

Valentin Nandlinger im Laden mit einem Rennrad: Er ist jetzt der Chef. (Foto: Nila Thiel)

Valentin Nandlinger hat die Geschäftsführung von seinen Eltern Petra und Peter übernommen. Über einen mehr als 100 Jahre alten Betrieb, der versucht, mit der Zeit zu gehen.

Von Jakob Thies, Herrsching

Wir schreiben das Jahr 1907: Wilhelm II. regiert, in Berlin eröffnet das Kaufhaus des Westens (KaDeWe) und der Freiburger FC wird mit einem 3:1-Sieg über Viktoria 89 Berlin Deutscher Fußballmeister. Indes erwarben Johann und Anna Nandlinger in Herrsching – weit weg von Weltpolitik, Großstadtkonsum und Profifußball – ein Haus an der heutigen Mühlfelder Straße.

Die Nandlingers wurden dort schnell zu Multiunternehmern: Während sie das Obergeschoss bewohnten, betrieben sie im Erdgeschoss eine Fahrradwerkstatt, eine „Mineralwasserfabrikation“ und stellten Ledergamaschen her. Zudem kauften sie einen „Adler“ mit 28 PS, Vollgummibereifung und Karbidlampen – das erste Taxi in Herrsching.

Heute – 117 Jahre später – ist der Familienbetrieb nicht mehr auf Mineralwasser, Leder und Taxis spezialisiert. Fahrräder werden an der Mühlfelder Straße aber immer noch verkauft und repariert – und das mittlerweile in vierter Generation: Valentin Nandlinger hat den Betrieb zum Jahreswechsel 2023/24 von seinen Eltern Petra und Peter übernommen.

Seit 1956 hatten Karl und Klara Nandlinger das Fahrradgeschäft weitergeführt. 1983 übernahm Sohn Peter. Gemeinsam mit seiner Frau modernisierte er das Familienunternehmen von Grund auf. Ihr „Stammhaus“ aus dem 19. Jahrhundert war in die Jahre gekommen. Wasser- und Stromleitungen? Verrottet. Heizung? Fehlanzeige. Daher entschieden sich die beiden dazu, das baufällige Haus abzureißen. An gleicher Stelle entstand 2010 ein lichtdurchfluteter Flachdach-Neubau – außen gläserne Fassade, innen brauner Parkettboden.

Karl Nandlinger vor seiner Werkstatt in Herrsching. (Foto: Fahrrad Nandlinger )
Eine Vielzahl an Modellen stehen zum Verkauf. (Foto: Nila Thiel)

Nach der Wiedereröffnung wird Sohn Valentin Nandlinger Junior-Chef im Familienbetrieb. Bereits in seiner Kindheit packte ihn die Begeisterung fürs Radfahren. „Als ich klein war, hatte ich schon immer das Fahrrad mit dabei“, erklärt der heute 33-Jährige. Zunächst absolvierte er eine Ausbildung zum Zweiradmechatroniker. Anschließend verbrachte er mit seinem Vater viele Stunden auf deutschen Autobahnen, um auf Messen Hersteller und Produkte kennenzulernen. Tagein, tagaus stand er im Familienbetrieb.

Trotz der vielen Arbeitsstunden: Nandlingers Passion fürs Rad-Handwerk blieb bestehen. „Für mich ist das keine Arbeit“, sagt der Zweiradmechatronikermeister und Betriebswirt, „sondern einfach pure Leidenschaft“. Die Entscheidung für die Betriebsübernahme reifte in ihm über die Jahre immer mehr. Nach vielen offenen Gesprächen mit seinen Eltern war dann zum Jahreswechsel alles klar: Fahrrad Nandlinger geht in die vierte Generation.

„Balanceakt“ Betriebsübernahme

Die Betriebsübernahme beschreibt Nandlinger als herausfordernden „Balanceakt“ zwischen älterer und jüngerer Generation. Es habe viele Jahre benötigt, bis er für die Übernahme bereit war. Seine Eltern mussten lernen loszulassen. Noch heute steht Vater Peter einmal in der Woche im Laden. Mutter Petra unterstützt ihren Sohn durch ihr Wissen in Buchhaltung und Verkauf, wo sie nur kann.

Auch sonst ist Nandlinger bei der Betriebsführung nicht auf sich allein gestellt: Während er maßgeblich für den Verkauf, die Werkstatt und die Geschäftsführung verantwortlich ist, kümmert sich seine Partnerin Ronja Haberfelner vor allem um die Buchhaltung, das Personalmanagement und Marketingmaßnahmen. Gemeinsam haben sie seit der Übernahme schon einiges verändert. Online stehe das „Community-Thema“ jetzt voll im Mittelpunkt, sagt die 27-jährige Sozialpädagogin und Groß- und Außenhandelskauffrau. Für den Internetauftritt des Familienbetriebs wurde extra eine neue Mitarbeiterin eingestellt.

Auf den Social-Media-Kanälen des Familienbetriebs ist daher einiges los: Neue Fahrradmodelle werden vorgestellt, es gibt Tipps für Radtouren unter dem Hashtag #radelnmitnandlinger und eine Eventankündigung jagt die nächste. Vor allem die wöchentlichen Ausfahrten mit dem Rennrad sind bei den Kunden beliebt. Auf den „Women’s Ride“ am Mittwochabend folgt der „Espresso Ride“ am Freitagmorgen. In „lockerem Tempo“: 25 Kilometer in einer Stunde.

Den Neubau mit gläserner Fassade und Paketboden gibt es seit 2010. (Foto: Nila Thiel)

Der persönliche Kundenkontakt im Laden habe sich dagegen nicht verändert. Die Fachberatung vor Ort sei nach wie vor das Wichtigste, wenn es darum gehe, Fahrradträume zu verwirklichen. Als Fachhändler haben sich die Nandlingers vor allem auf E-Bikes spezialisiert. Die Auswahlmöglichkeiten sind riesig: Neben den typischen Trekkingrädern stehen in ihrem Laden neuartige Gravelbikes – Rennräder mit dickeren Reifen – und sogenannte „SUVs“ – zweirädrige Nutzfahrzeuge mit Federung, E-Motor und Anhängerkupplung.

Bei den Preisen gibt es große Unterschiede: Ein Rennrad mit Carbonrahmen und elektronischer Schaltung – der Rolls-Royce unter den Fahrrädern – kann auch mal fünfstellig werden. Normalerweise ist es aber sehr viel preiswerter. Mountainbikes bekommt man ab 500 Euro.

In der offenen Werkstatt im Erdgeschoss reparieren Werkstattleiter Luca Trumpetter und seine Kollegen alles, was sie vorgesetzt bekommen. Ob hochkomplexes Hightech-Rennrad oder 20 Jahre alter Drahtesel mit manueller Schaltung – der Familienbetrieb ist nicht auf eine bestimmte Marke spezialisiert.

Trotz Fahrradbooms: Es mangelt an Infrastruktur

Neubau, Auszubildende, Generationenwechsel: Der Familienbetrieb ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen. Profitiert habe man vor allem von dem permanenten Aufschwung der gesamten Fahrradbranche. Seit der Corona-Pandemie herrsche ein regelrechter Boom. Trotzdem: Für weiteres Wachstum sei vor allem ein aktives Gemeindeleben wichtig. Andere Orte würden zwar zeigen, was geht, betont Nandlinger und verweist auf das Radrennen im Allgäuer Sonthofen. Herrsching müsse sich aber nicht verstecken. Die Gemeinde am Ammersee wachse, profitiere von der Münchner S-Bahn-Anbindung und organisiere zahlreiche Events. Zudem würden die Herrschinger Unternehmen über den lokalen Gewerbeverein „WIR“ zusammenarbeiten, um den lokalen Einzelhandel zu stärken.

Und die Umwelt? Laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) hat die Fahrradbranche in Deutschland im vergangenen Jahr erstmals mehr E-Bikes als klassische Fahrräder abgesetzt. In Zahlen: 2,1 Millionen zu 1,8 Millionen. Auf die Frage, ob das denn wirklich nachhaltig sei, antwortet Nandlinger mit einem Vergleich: Ein Wechsel vom Auto aufs E-Bike sei in jedem Fall nachhaltiger, als weiter auf vier Rädern durch die Welt zu fahren. „Wir wollen mehr Leute aufs Rad bringen.“

Bei der Verkehrswende passiere in Deutschland, Bayern und Herrsching allerdings immer noch zu wenig, findet er. Natürlich brauche es neue Radwege. Allerdings könnten Straßen und Wanderwege auch einfach durch eine andere Beschilderung umgewandelt werden. Dafür hat sich Nandlinger bereits gemeinsam mit seiner Partnerin eingesetzt. Sie nahmen im vergangenen April an einer Fahrraddemo mit 17 000 Menschen teil. Von Herrsching ging es zum Münchner Königplatz – teilweise über die Autobahn.

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