Der Film auf der großen Leinwand im Bürgersaal in Breitbrunn ist etwas unscharf, doch die Menschen sind gut zu erkennen. „Schau, der Otto, und da ist die Tante Resi, die Annelies und der Schrafstetter-Opa auch“, ruft eine Frau erfreut, als sie Bekannte unter den vielen Menschen erkennt. Es sind Fahrgäste der Dießen, die in den typischen Farben der Siebzigerjahre gekleidet über den Steg an Bord gehen. Es ist der 10. November 1974, die letzte Fahrt des Schiffs Dießen auf dem Ammersee und überhaupt die letzte Fahrt eines Dampfers auf dem See.
Hans-Ulrich Greimel, Bauunternehmer aus Breitbrunn, hat den Film damals mit seiner Super-8-Kamera aufgenommen. Ein paar Monate vor dem 50. Jahrestag hat er die Filmspule digitalisiert. Deswegen fehlt bei der Vorführung im Bürgersaal das typische Rattern eines Filmprojektors. Der Stummfilm weckt nostalgische Gefühle. Man sieht die Schiffsglocke schlagen und das Schaufelrad durchs Wasser pflügen. Es gibt aber keine Tonspur. „Wir hätten aus dem Internet Dampfgeräusche dazumischen können“, erklärt Heimatforscher Robert Volkmann aus Inning. Er hat aber darauf verzichtet. „So ist es einfach echt“. Greimel hat mit viel Liebe zum Detail gefilmt. Man sieht die Flammen im Kohlenkessel, Kolben, Messgeräte und viel Dampf. Für etwa zehn Breitbrunner ist es ein Wiesersehen mit ihrem jungen Ich. Sie waren ebenfalls bei der Abschiedsfahrt dabei.
Der ehemalige Geschichtslehrer und passionierte Buchautor hat die Erinnerung an die Dießen unter Dampf als Aufhänger für die Präsentation seines 150 Seiten langen neuen Werks genommen. „Bei uns daheim: Weitere Geschichte(n) aus Breitbrunn, vom See und aus der Nachbarschaft“, heißt es. Dem Schiff ist darin ein Kapitel gewidmet.
1908 wurde der Schaufelraddampfer in Stegen am Ammersee vom Stapel gelassen. Der Münchner „Lokomotivenkönig“ J. A. Maffei hat ihn gebaut. Maffei war damals auch Inhaber der privaten Ammerseeschifffahrt. Schnell entwickelt sich der Dampfer zu einem Wahrzeichen. Das Schiff mit dem rauchenden Schlot, der eine dunkle Rauchfahne hinter sich herzieht, ist ein beliebtes Postkartenmotiv.
Dem neuen Zeitalter muss das alte Dampfschiff nach 66 Jahren weichen. Trotzdem lebt die alte Dießen immer noch. Und zwar im Modell von Architekt Andreas Heene.


Heene war damals auch bei der Abschiedsfahrt dabei. Mit einem Freund ist der 17-Jährige dafür von Ludwigshafen zum Ammersee gefahren. Danach reift in ihm der Entschluss, das Boot originalgetreu im Maßstab 1:20 nachzubauen. Die Dießen sollte in Miniatur genauso wie das Original aussehen. Dafür hat Heene alles genau abgemessen, fotografiert und abgezählt. „Nur bei der Reling fehlt eine Niete. Da habe ich mich verzählt“, sagt er. Geradezu besessen arbeitete der Schüler an seinem Modell. Für nichts anderes hatte er mehr Gedanken. Seine Mutter zog die Reißleine und verhängte vor dem Abitur ein Bastelverbot. Doch die Pause kühlte die Bastellaune nicht ab, und danach ging es genauso leidenschaftlich weiter. Insgesamt hat Heene von 1975 an etwa 3000 Stunden in drei Jahren an dem Modell gebaut. Das 17 Kilogramm schwere Schiff ist sogar seetüchtig und ist einige Male auf dem Ammersee gefahren. Heene hat auch die Technik selbst gebaut, den Dampfkessel aus Edelstahl sowie die zweizylindrische Maschine. „Die Flügelmuttern habe ich unter einem Uhrmachermikroskop geklopft“, erzählt er. Allein das Schaufelrad besteht aus 447 Einzelteilen. „Nur die Glühbirnen konnte ich nicht selbst machen“, bedauert Heene.
Auch den Innenraum hat Heene originalgetreu mit Parkett und verkleinertem Mobiliar, sogar Toilette und Küche, eingerichtet. Und wie auf der echten Dießen hängt auch im Modellschiff ein Bild von Schloss Neuschwanstein an der Wand, und das gleiche Glasmuster hat er ins Minifenster geätzt. Das sieht man von außen zwar nicht, aber Heene hat im Bürgersaal das Deck abgenommen und beantwortet bereitwillig die vielen Fragen.
Sein Haus hat der Architekt um die Vitrine mit dem Schiff geplant
Sein Modell hat in Heenes Haus einen Ehrenplatz. Denn der Architekt zieht später tatsächlich nach Breitbrunn. „Zufall“ nennt er es, aber der Umzug scheint auch eine logische Folge zu sein. Es passt auch, dass ein Handwerker erstaunt bemerkt, dass das Haus irgendwie wie ein Dampfer aussieht, obwohl Heene beteuert, das auch dies Zufall sei. Damit das Dampfermodell adäquat präsentiert werden kann, hat Architekt Heene das Gebäude rund um die Glasvitrine geplant. „Sie steht zwischen Wohnzimmer und Esszimmer“.
Neben den Erinnerungen an die Dampfschifffahrt gibt es in Volkmanns Buch wie in einem Almanach eine Reihe von bunten Geschichten. Volkmann springt durch die Jahrhunderte, erinnert an König Ludwig, der in früheren Zeiten den Jaudesberg besucht hat, schreibt über die späteren Bürgerproteste gegen den geplanten Mobilfunkmasten auf dem Berg, erzählt von Baumriesen in der Gemeinde, verrät, dass im ehemaligen „Posterholungsheim“ und heutigem DHL-Managementzentrum eine quietschbunte Skulptur von Niki de Saint Phalle steht und stellt Originale aus dem Ort vor. Warum er die Geschichten für die Nachwelt aufgeschrieben hat? „Ich glaube, dass wir so etwas in der jetzigen Zeit brauchen“, antwortet der 75-Jährige.
Das Buch kostet 15 Euro und kann unter volkmannrobert@web.de bestellt werden.