Vor 24 Jahren, am 28. Januar 2001, starb der Bildhauer Helmut Ammann in seinem Haus in Pöcking. Im selben Jahr eröffneten seine Stieftochter Marita Krauss und ihr Mann Erich Kasberger in den umgebauten Atelierräumen die Galerie Ammann, in der sie seither den künstlerischen Nachlass unter immer wieder neuen Aspekten präsentieren. „Anonyme Zeitgenossen“ heißt die aktuelle Ausstellung mit rund 250 Porträts, Studien und Skizzen, die einen beinahe intimen Einblick in den Arbeitsalltag des Künstlers gestatten.
Helmut Ammann wurde 1907 in Shanghai geboren, wo sein Vater die deutsche Medizinschule mitbegründet hatte. Er wuchs in Berlin auf, studierte schon als Kind die Gesichter und Bewegungen fremder Menschen, „um zu Hause alles zum Ergötzen der Familie präzise nachahmen zu können“, schreibt Marita Krauss im Begleitband zur Ausstellung. Und weiter: „Was man für schauspielerische Veranlagung hielt, war im Kern die intensive Freude am Beobachten.“ Früh offenbarte Ammann auch ein großes zeichnerisches Talent, nach Studienaufenthalten in der Bretagne und in Paris entschied er sich 1933 endgültig für ein Leben als Künstler.
Er studierte an der Akademie der bildenden Künste in München, wo er als Schweizer Staatsbürger auch während der Kriegsjahre lebte. In den Jahren des Wiederaufbaus führte er zahlreiche Aufträge für die Evangelische Kirche in ganz Deutschland aus. Es entstanden Schnitzwerke, Altäre und auch eine Vielzahl von Kirchenfenstern. Ab den 1960er-Jahren machte Ammann sich auch als Porträtist einen Namen. Schriftsteller, Schauspieler, Musiker und andere berühmte Menschen saßen ihm Modell. „Das Porträtieren ist eine meiner Leidenschaften und ich habe immer wieder versucht – meist in plastischen Bildnissen und ungezählten Zeichnungen – hinter das Geheimnis der Identität zu kommen“, schrieb er.
Ammann, der von den 1970er-Jahren an in Pöcking lebte und jeden Tag mit der S-Bahn in sein Atelier nach München fuhr, machte nicht nur vorbereitende Skizzen für seine Aufträge, er war ein unermüdlicher Zeichner. Wo auch immer er war, hatte er einen Block oder ein kleines Ringbuch und einen Stift dabei. Auf Zugfahrten, im Restaurant, im Konzert, im Theater oder bei Vorträgen beobachtete er seine Mitmenschen und hielt sie in zeichnerischen Momentaufnahmen fest. Manchmal mit wenigen Strichen, wenn es ihm um eine bestimmte Neigung des Kopfes, eine Frisur, einen auffälligen Hut oder ein elegantes Kleid ging.


Eine Geste, ein konzentrierter Blick, ein in die Hand gestützter Kopf oder die vielen unterschiedlichen Arten, wie Menschen eine Zigarette halten, faszinierten ihn ebenso wie Charakterköpfe und interessante Profile. Mal arbeitete er mit Schraffuren, um das Spiel des Lichts einzufangen, mal ging es ihm um Umrisslinien oder Bewegungen. Und nicht selten hielt er seine Zeitgenossen in Form einer Karikatur fest: Das schlafende Gegenüber mit dem zerknautschen Gesicht in einem Zugabteil, die Silhouette einer kleinen Frau mit sehr großem Koffer, aber auch den kantigen Bundeskanzler Helmut Schmidt und den halslosen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, die er beide bei Veranstaltungen in der Evangelischen Akademie in Tutzing erlebte.
„Üben, üben und nicht nachlassen!“, notierte noch der mehr als 80-jährige Helmut Ammann in seinem Tagebuch. Rund 5000 Blätter, auf denen er seine „anonymen Zeitgenossen“ skizzierte, haben sich aus den 1960-er bis 1980-er Jahren erhalten. Wenn ihm eine Zeichnung gelungen erschien, signierte Ammann sie und versah sie mit dem Datum. Am Rand vieler der jetzt ausgestellten Blätter sind noch die Löcher des Ringbuchs zu sehen. Auch Programmhefte und Prospekte, Briefumschläge, Speisekarten und sogar Papierservietten dienten ihm zuweilen als Zeichenmaterial. Die Präsentation, die sich Erich Kasberger für diese kleinen Preziosen ausgedacht hat, erinnert an Pinnwände und an Litfaßsäulen, die man von mehreren Seiten betrachten kann. Und so wird der Ausstellungsbesuch auch zu einem Spaziergang in eine ganz und gar analoge Zeit, in der Menschen sich zum Ausgehen gut anzogen, Hüte oder Hütchen trugen, im Zug raschelnd Zeitungen oder gar Bücher lasen und im Restaurant rauchten.
Die Ausstellung „Anonyme Zeitgenossen“ in der Galerie Ammann, Feldafinger Straße 18 in Pöcking, ist nur nach Voranmeldung unter 08157-4974 zu besichtigen.