Literatur:Als wär's ein Bild von Wilhelm Leibl

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Wilhelm Leibls Gemälde "Mädchen mit weißem Kopftuch", entstanden um 1876/77, gehört seit 1927 zur Bayerischen Staatsgemäldesammlung. (Foto: Neue Pinakothek München)

Susanne Betz aus Stockdorf zeichnet in ihrem Heimatroman "Heumahd" das bäuerliche Leben im 19. Jahrhundert nach. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem der berühmtesten Maler des deutschen Realismus und einer jungen Frau.

Von Gerhard Summer, Gauting

Das Werdenfelser Land kann das pure Glück sein - oder auch die Vorhölle. Oft genug hat es in Susanne Betz' "Heumahd" von beidem etwas.

Die Autorin aus Stockdorf erzählt in ihrem vierten Roman die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft vor hinterwälderischer Kulisse: Der berühmte Maler Wilhelm Leibl und die junge, gerade erst verwitwete Bäuerin Vroni lernen sich kennen und bald schätzen. Leibl öffnet ihr buchstäblich die Augen für die Schönheit dieser Alpenlandschaft. Ja, er hört ihr zu, fragt nach und lobt ihr Essen, so was hat sie noch nie erlebt. Leibl darf die 23-Jährige später sogar malen, obwohl sie Besseres zu tun hätte, und bringt Licht und Wärme in ihr Leben, vielleicht auch, weil er ihr nicht an die Wäsche gehen will, sondern mehr an Jünglingen interessiert ist.

Eines Tages taucht er mit einem jungen Engländer namens Reginald auf dem einsamen Hof auf, dem Sohn eines Arztes, der sich Vronis Stieftochter anschauen soll, das Rosl. Das Mädchen ist ein Engel mit Mondgesicht. Aber es hat einen Herzfehler, tut sich mit dem Sprechen schwer und ist zu klein für sein Alter. "Idiotenkind" sagen deshalb alle zu Rosl. Reginald tut, was sonst keinem im fiktiven Dorf Loisbichl einfiele: Er macht mit ihr Übungen, damit sie Zunge und Finger besser bewegen kann.

Die Autorin Susanne Betz im Garten ihres Hauses in Stockdorf bei Gauting. (Foto: privat)

Susanne Betz hat drei Jahre lang an dem historischen Roman gearbeitet. Dass der Titel stark nach Heimat klingt, ist ihr selbst gar nicht aufgefallen. Die promovierte Historikerin, die in Würzburg, Washington und Kolumbien studiert hat und seit 1993 als Hörfunkredakteurin beim BR arbeitet, studierte 140 Jahre alte Hochzeitsanzeigen, aus denen herauszulesen sei, "was die Frau oder den Mann erwartet". Mit der Zeit um 1871 hatte sie sich schon in ihrer Doktorarbeit befasst. Sie lernte bei einem Landwirt das Sensen auf Buckelwiesen, "das geht wahnsinnig auf die Knochen". Übers Melken wusste sie Bescheid, sie hatte sich für eine Reportage in der Chicago Tribune mal eine Woche lang bei den Amischen einquartiert. Und sie wollte "etwas schreiben, das unterhält, aber auch stimmt". Denn das störe sie an historischen Romanen aus Deutschland: dass es da oft nur um "Sex, Crime und Middle Age" gehe.

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Das Werdenfelser Land, die Gegend zwischen Mittenwald im Süden und Farchant im Norden, liebe sie seit ihrer Kindheit. Und auf die Idee, eine eigensinnige junge Frau zu porträtieren, die mit Naturgewalten kämpft und mit ungeschriebenen Gesetzen zum richtigen weiblichen Verhalten, sei sie durch Leibls "Mädchen mit weißem Kopftuch" gekommen. Der Künstler, einer der wichtigsten Vertreter des Realismus in Deutschland, hält in dem 1876/77 entstandenen Ölgemälde auf Eichenholz eine junge Frau im Profil fest. Die Schufterei steht ihr ins Gesicht geschrieben, ihre dunklen Augen hat sie nach rechts gedreht. Das Bild könnte womöglich am Ammersee entstanden sein. Denn 1875 war der Rheinländer Leibl aus München nach Unterschondorf gekommen. Er verliebte sich angeblich in die Wirtstochter Resi Bauer. Das Ganze endete offenbar unglücklich, 1877 zog Leibl wieder von dannen. In "Heumahd" ist er homosexuell. Vieles deute darauf hin, dass er mit dem Künstler Johann Sperl eine Lebensbeziehung hatte, sagt Betz.

Ihre Geschichte spielt in den 1880er Jahren. Der Kini ist gerade im Starnberger See umgekommen, und der Mann von Vroni im Suff gestürzt, liegengeblieben und erfroren. Das mit Ludwig II. ist schlimm, die Sache mit dem Bauern aber ein großes Glück. Denn er hat seine Frau geprügelt, geschunden und missbraucht. Trotzdem: Vroni Grasegger muss jetzt den Hof hoch droben auf dem Geißschädel allein bewirtschaften. Heiraten will sie nicht, auch als das Trauerjahr vorbei ist. Hochwürden, das halbe Dorf und üble Kerle mögen sie noch so bedrängen. Doch die 23-Jährige ist nicht auf den Kopf gefallen. Und sie bekäme die Heumahd zusammen mit ihrem Knecht Korbinian und der mürrischen Magd Josefa schon hin, wenn nur der Dauerregen nicht wäre. Bald steht ihr Leibl bei, ein Schrank von Mann auf kurzen Beinen, der gerade als Maler in der Krise ist. Spätabends sitzt sie mit ihm und Reginald vor dem Hof, trinkt Wein und ahnt zum ersten Mal, dass es ein Leben gibt, das man genießen kann.

Der Künstler Wilhelm Leibl, das Selbstbildnis zeigt ihn als Achtzehnjährigen. (Foto: Wikipedia commons)

"Heumahd" handelt auch davon, dass sich die Moderne in der Provinz ankündigt. Längst haben die Städter das Werdenfelser Land entdeckt. Sie können sich kaum sattsehen an der Gegend und am Karwendel. Und die Luft schnaufen sie ein, als wär's Opium, so "erdig und scharf, mit einer Nuance Süße". Die geschäftstüchtigen Dörfler haben in Wahrheit kaum mehr als ein Kopfschütteln für die Fremden übrig. Wer macht denn so was: auf Berge steigen und über Wiesen spazieren? Nur Verrückte mit Migräne und Unterleibsbeschwerden. In ihrem Alltag gibt es nun mal keine Faulenzerei und keine Erholung, nur Plackerei. Unterbrochen allein vom Kirchgang am Sonntag in Loisbichl, wenn der Pfarrer wieder predigt, dass der Herrgott die Erde und überhaupt alle Berge hier gerade mal vor 6000 Jahren erschaffen hat. Gut, das nimmt ihm der wortkarge Korbinian nicht mehr ab, und er erklärt auch seiner Bäuerin Vroni, wie die Dinge in Wahrheit stehen.

Gibt es einen Heimatroman ohne Kitsch?

Stilistisch ist "Heumahd" so etwas wie das Gegenstück zu Anna Wimschneiders "Herbstmilch". Denn Betz schreibt nicht trocken, streng und karg, sondern poetisch, farbig und plastisch. Die enge Welt des im Winter völlig abgeschnittenen Bergbauernhofs bekommt so Weite. Und so schlicht der Titel ihres Buches ist, so üppig und detailversessen schildert sie das Mähen mit Sensen, das Vergühen der Abendsonne auf den Bergen oder auch die Herstellung von Ringelblumensalbe (Blüten mit Speiseöl übergießen, dazu zwei Messerspitzen Honig). Selten zu hörende Begriffe wie Hober (Kartoffelschmarrn) oder Stangger (Rundhölzer, auf denen das Heu trocken werden soll) geben dem Text zusätzlich Atmosphäre. Außerdem hält sich die Autorin fern von Phrasen und gibt dem Buch Spannung, indem sie Unklarheiten etliche Seiten später oder im Falle eines Schuldscheins erst zum Ende hin auflöst.

Manchmal gelingen ihr feine Metaphern, manchmal streut sie zu viele und zu gewollte Vergleiche ein. Ihre Perspektive ist nicht die der kurzsichtigen Bäuerin, die erst klar sieht, nachdem ihr Leibl eine Brille besorgt hat. Betz beschreibt diese Landschaft und ihre Menschen, als hätte sie die schonungslosen Bilder von Leibl vor Augen. Und so wirkt "Heumahd" selbst streckenweise wie ein romangewordenes Gemälde.

Gibt es also einen Heimatroman ohne Kitsch? Ja und nein. "Heumahd" geht auch deshalb als realistisches Abbild des Lebens im 19. Jahrhundert durch, weil Betz bei ihrem Personal auf Schwarz-Weiß-Zeichnungen verzichtet. Die kluge Bäuerin Afra Huber zum Beispiel mag eine neugierige Landplage sein. Aber sie interessiert sich für Politik. Sie kauft Aktien. Und sie schafft sich das erste Fahrrad in Loisbichl an. Ja, sie denkt modern und ist emanzipiert, obwohl das Wort noch gar nicht existiert. Frauen wie sie und Vroni gab und gibt es wohl zu allen Zeiten. Am Ende allerdings wird's fast schon zu lieblich. Laut läuten die Hochzeitsglocken, weder das Rosl stirbt noch der bettlägrige Onkel der Bäuerin. Aber das Happy End auf dem Geißschädel hat auch sein Gutes, denn Rosl und Vroni sind einem ans Herz gewachsen.

Susanne Betz, "Heumahd", 317 Seiten, Verlag C. Bertelsmann, 22 Euro.

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