Gräfelfing:Kunst als Naturereignis
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Die Ausstellung auf Gräfelfings letztem Bauernhof zieht die Besucher in Scharen an
Von Annette Jäger, Gräfelfing
"Ne, aufgeschnittene Autoreifen sind echt nicht mein Ding", sagt die Besucherin kopfschüttelnd und geht weiter. Würde sie genauer hinschauen, könnte sie feststellen, dass es sich bei dem Kunstobjekt "Inkrustationen" von Dorothea Reese-Heim nicht um aufgeschnittene Autoreifen handelt, die im Gewächshaus des Gräfelfinger Seidlhofs ausgestellt sind, sondern um eine Skulptur aus Flachsstängeln, Papier und Leinenlumpen, den Kreislauf der Natur symbolisierend. Aber das macht nichts, die Frau wird ein anderes Kunstobjekt finden, das ihr zusagt. Sie ist gekommen, und darum geht es: Kunst zu den Menschen zu bringen, vor allem zu jenen, die sonst nicht in ein Museum gehen.
Das ist das Anliegen des Kunstkreises Gräfelfing. Schon nach dem ersten Wochenende der Ausstellung "Natur-Ereignis-Kunst" kann man sagen: Es ist gelungen. An die 1000 Besucher waren laut Kunstkreischefin Bettina Kurrle zur Vernissage am Freitag erschienen, etwa 600 schlenderten allein am Sonntag über das Gelände: Familien mit Kindern, Junge und Alte, manche Kopfschüttelnde und viele Begeisterte, Gräfelfinger, Münchner und weiter Entfernte näherten sich der Kunst.
Die Veranstalterinnen wissen schon, wie sie Kunst zu den Massen bringen. Sie suchen sich bewusst Orte, die locken. In all den Jahren hat der siebenköpfige Vorstand einen Blick für das Außergewöhnliche entwickelt: Ein Kieswerk, Gräfelfings zentrale Einkaufsstraße und das entkernte Alte Rathaus wurden schon bespielt. Dieses Mal ist es der Seidlhof, Gräfelfings letzter Bauernhof, ein 30 000 Quadratmeter großes Areal mitten im Wohngebiet, ein paradiesisches Kleinod, das nicht mal alle Gräfelfinger kennen. Der Hof wurde vor hundert Jahren von Hutfabrikant Anton Seidl erworben, seit 2005 ist er in eine Stiftung übergegangen, die sich der Förderung des ökologischen Landbaus und der Umweltbildung verschrieben hat. Hier reiht sich die Kunst ein: Eine Jury hat aus mehr als 400 eingereichten Exponaten - die Ausstellung war öffentlich ausgeschrieben - etwa 50 Kunstwerke von überregional bekannten Künstlern ausgewählt, die sich alle mit dem Thema Natur auseinandersetzen. Ein Spaziergang über das Areal offenbart, wie vielfältig diese Begegnung von Kunst und Natur sein kann. Gleich am Eingang zieht eine Wiese mit bunten, von Michaela Menzel zu Blütenformationen arrangierten Gießkannen den Blick auf sich. Das bunte Plastik, artfremd im Wiesengrün platziert, irritiert und hat doch einen ästhetischen Reiz.
An einer Scheunenwand kämpfen geschnitzte Holzfiguren von Albin Zauner ums Überleben: In engen Holzkistchen stehen sie, hängen noch fest an dem Ast, aus dem sie geschnitzt sind - sie sind Werk der Natur und machen ihren Ursprung gleichzeitig zunichte. Es bleibt ihnen oft nur ein Scheit, auf dem sie überleben. Im Kräutergarten ragen überdimensionale Pusteblumen von Renate Klussmann aus Keramik aus den Sträuchern und spielen mit dem Gegensatz zwischen filigraner Blume und statischer Skulptur. Die Arbeit von Peter Neuberger wird erst durch den Wind, zu dem, was sie ist: ein Mobile aus rot gefärbten Bambusstangen, unsichtbar aufgehängt, faszinierend schwebend.
Poetische Satzfragmente, die als Leuchtschriften zwischen Bäumen installiert sind, machen stutzig: "alles verrat ich nicht" heißt eine. Genau, so ist es: Nichts ist eindeutig und offensichtlich. Der Betrachter ist gefordert, sich einzulassen,mit allen Sinnen, Assoziationen zuzulassen. Man muss nicht alles verstehen, manches darf rätselhaft bleiben oder kurios wie die halbvergrabene Kapelle von Fabian Vogl auf einem Flachsfeld, die als Rückzugsort eines afghanischen Kochs dient. Natur und Kunst treten in spannende Wechselwirkung. Die Grenzen verschwimmen. Wo endet die Natur, wo beginnt die Kunst? Sind die aufgestapelten Holzstämme am Wegesrand ein Objekt, oder hat der Landwirt sie hier abgelegt? Ist die verschlungene Baumwurzel dort gewachsen oder arrangiert? Ist nicht die Natur ein einziges Kunstwerk?
Im Café unter der Eiche treffen sich alle, auch die, die gekommen sind, um den Hof zu sehen, der sonst nicht öffentlich zugänglich ist. An der Kunst kommen sie nicht vorbei. Im Sitzen kann man den Arm ausstrecken und mit der Hand über eine am Eichenast hängende, faszinierend bearbeitete Holzplatte der norwegischen Künstlerin Janka Bertelsen streichen und es wie eine Besucherin halten: "Ich lass mich hier einfach verzaubern."
Die Ausstellung ist bis 12. Juli jeweils donnerstags bis sonntags von 15 bis 18 Uhr geöffnet, Gräfelfing, Spitzlberger Straße 2a.