Süddeutsche Zeitung

Kriegsende 1945:Grüne hissen die weiße Fahne

Martin Pilgram und Sibylle Schwarzbeck erinnern mit ihrer Gilchinger Aktion an die Gräuel des Zweiten Weltkriegs.

Von Armin Greune

In den letzten Apriltagen 1945 marschierten amerikanische Truppen im Landkreis Starnberg ein, am 8. Mai war der Zweite Weltkrieg in Europa beendet. Damit dieses epochale Ereignis vor 75 Jahren heuer nicht angesichts der Corona-Beschränkungen in den Hintergrund gerät, rufen Sibylle Schwarzbeck und Martin Pilgram dazu auf, symbolisch die weiße Fahne zu hissen. Die zwei Gilchinger Grünen haben selbst bereits Bettlaken vor ihre Häuser gespannt und hoffen, dass sich viele im Fünfseenland der Aktion anschließen und bis zum 8. Mai weiße Tücher deutlich sichtbar aus den Fenstern, über Zäune oder Balkone hängen lassen.

Das Zeichen, das vor einem Dreiviertel-Jahrhundert die Kapitulation vor dem einrückenden Feind bedeutete, erforderte seinerzeit viel Mut: Bei einer Denunziation drohte die Gefahr, in letzter Minute von den Nazi-Schergen standrechtlich erschossen zu werden. Heute solle die weiße Fahne "alle daran erinnern, wie viele Menschen in diesem Krieg aus den verschiedensten Gründen sinnlos ums Leben kamen", sagt Pilgram. Und das Symbol könne dazu ermahnen, mit unserer Demokratie sorgfältig umzugehen, für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus und Ausgrenzung Stellung zu beziehen.

75 Jahre sind seit den letzten kriegerischen Handlungen im Fünfseenland vergangen - so lange haben in Deutschland noch nie zuvor Frieden und politische Freiheit geherrscht. Die Initiatoren wollen mit der Fahnen-Aktion gerade auch der jungen Generation verdeutlichen, welchen Wert diese zerbrechlichen Errungenschaften darstellen. Die Idee zur Beflaggung haben Schwarzbeck und Pilgram von den Münchner Künstlern Wolfram Kastner und Michael Wladarsch übernommen. Den Aktivisten ist es ein Bedürfnis, ihre Erinnerungsarbeit an NS-Herrschaft und Krieg mit anderen zu teilen und publik zu machen - auch wenn die eigentlich vorgesehenen öffentlichen Gedenkfeiern in Coronazeiten abgesagt werden müssen. In Fürstenfeldbruck wurde die Münchener Anregung ebenfalls aufgegriffen: Dort rufen das Bündnis "Fürstenfeldbruck ist bunt - nicht braun", Oberbürgermeister Erich Raff (CSU) und Olchings Rathauschef Andreas Magg (SPD) alle Einwohner dazu auf, weiße Tücher aufzuhängen.

Sibylle Schwarzbeck sei mit der Aktion auch mehrmals an Gilchings Bürgermeister Manfred Walter herangetreten, "da ist aber nichts dabei herausgekommen", sagt Pilgram. Der Grünen-Gemeinderat ist im März erstmals in den Kreistag gewählt worden und hat die Initiative in der ersten vorbereitenden Sitzung der künftigen Kreistagsfraktion vorgestellt, "die einzelnen Mitglieder wollten die Idee in ihre Kommunen tragen", berichtet Pilgram. In der konstituierenden Sitzung des Gilchinger Gemeinderats am Dienstagabend mochte er die weißen Fahnen nicht ansprechen: "Bei so viel Organisatorischem geht das Thema unter, das wäre dem Anlass nicht angemessen." Am Freitag aber soll am Friedenspfahl in Gilching noch einmal auf den Jahrestag der Befreiung hingewiesen werden.

Die letzten Kriegstage in Gilching

Der 2012 gestorbene Schulrektor, Ehrenbürger und langjährige Gilchinger Gemeinderat Rudolf Schlicht war Augenzeuge der letzten Tage der Naziherrschaft und des Beginns der US-amerikanischen Besatzung in Gilching. In seinem 1996 erschienenen Werk "Wie es in Gilching war" schildert der Ortschronist Schicht den Einmarsch der Alliierten (Band zwei, Seite 91):

"In der Nacht zum Montag, den 30. April 1945, war es ruhig geworden in Gilching. Die Angst vor den Fliegerangriffen war vorbei, und die letzten deutschen Soldaten hatten schon das Dorf in Richtung Unterbrunn-Starnberg verlassen. Ab 8 Uhr morgens kreiste ein Aufklärungsflugzeug der Amerikaner über Gilching, um festzuhalten, ob sich im Dorf noch deutsche Soldaten in Abwehrstellung befinden. Das Dorf machte einen friedlichen Eindruck. Gegen 9 Uhr vormittags rollten dann die Kolonnen der amerikanischen 11. Infanteriedivision mit ihren Panzern, Jeeps und Versorgungsfahrzeugen von Germansberg und Alling kommend in Gilching ein. Amerikanische Soldaten durchsuchten die Häuser nach deutschen Soldaten. Sie fanden aber keine mehr. Zögernd kamen die Gilchinger aus ihren Häusern und bestaunten die gewaltige amerikanische Kriegsmaschinerie. Die Panzer rollten weiter Richtung Argelsried, wobei die Panzerketten dabei den dünnen Teerbelag auf der Römerstraße zwischen Dorf und Bahnhof zermalmten. Nur eine kleine Infanteriegruppe blieb in Gilching und quartierte sich für die nächsten drei Monate im Schulhaus ein." arm

Der überzeugte Pazifist Martin Pilgram kann heuer auch auf ein persönliches Friedensjubiläum zurückblicken: Vor 40 Jahren beantragte er Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer - obwohl er bereits zuvor seinen Wehrdienst komplett abgeleistet hatte. Im ersten Verfahren bestanden Pilgrams Gewissensgründe nicht vor dem Prüfungsausschuss des Kreiswehrersatzamt Weilheim, erst in zweiter Instanz wurde sein Antrag anerkannt. Zur Bundeswehr war er gegangen, weil dies "zum Staatsverständnis" in seinem katholisch-konservativen Elternhaus gehörte, sagt der 66-Jährige heute. Er schloss sich Pax Christi an, der internationalen ökumenischen Friedensbewegung in der katholischen Kirche. Pilgram gründete eine Basisgruppe in Gilching und ist bis heute Vorsitzender der Diözesanvertretung München-Freising von Pax Christi. Bis zum vorzeitigen Ruhestand setzte sich der Mathematiker auch bei der DLR in Oberpfaffenhofen kritisch mit den militärischen Aufgaben seines Arbeitgebers auseinander.

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SZ vom 07.05.2020
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