Geschichte:Eine Jugend in der Nazizeit

Feldafing: Erwin Küchle

Erwin Küchle ist während des Dritten Reiches in Baden-Württemberg aufgewachsen. Seit mehr als 50 Jahren lebt er in Feldafing.

(Foto: Nila Thiel)

Der 91-jährige Feldafinger Erwin Küchle erzählt in einem Vortrag im Hotel Kaiserin Elisabeth von seiner Kindheit, seinen schlimmen Erfahrungen mit dem Regime und seinem Kontakt zu den Geschwistern Scholl

Von Hannah Maassen, Feldafing

Als Erwin Küchle sechs Jahre alt war und mit seinem Vater zur Schule gegangen ist, - das muss 1932 oder 33 - gewesen sein, hat er gefragt "Papa, du wählst schon Hitler, oder? Sonst hab ich dich nicht mehr lieb" Der Vater hat nicht Hitler gewählt, er war Mitglied in der christlichen Zentrumspartei, Teil des Landtags in Baden-Württemberg, gegen Hitler und wurde 1936 deswegen sogar ermordet. Küchle erzählt diese Geschichte in seinem Vortrag "Eine Jugend in der Nazizeit - im Umfeld der Weißen Rose" am Montagabend im Hotel Kaiserin Elisabeth. Er ist einer der letzten lebenden Zeitzeugen, die mit der "Weißen Rose, mit Hans und Sophie Scholl in Kontakt gekommen war.

"Die Familien Küchle und Scholl waren beides, verbunden, aber auch zerworfen", erzählt der heute 91-Jährige, der 1967 nach Feldafing gezogen ist. Seine Schwester sei mit Sophie im Bund Deutscher Mädchen gewesen, sie hätten sich aber nicht gemocht. Sein Vater habe auch mal Sophie Scholls ältere Schwester Inge eingeladen, um sich ein Bild zu machen. Danach habe er zu seinen Kindern gesagt: "Bei denen müsst ihr aufpassen". Sophie Scholl und ihr Bruder Hans, so sagt Küchle, seien zunächst glühende Verehrer Hitlers gewesen "und haben es geschafft, umzudenken. Das ist ungeheuerlich, dass man das schafft: umzudenken." Von dem Gesinnungswandel der Scholls habe er erst nach deren Tod erfahren. Das sei ja alles geheim gewesen: "Wäre ich sieben Jahre älter gewesen, wäre ich da mit dringestanden." Die Ermordung der Geschwister Scholl habe ihn sehr erschüttert. Er erinnert in seinen Erzählungen daran, worum es der Gruppe "Weiße Rose" gegangen ist: "Sie haben nicht aus ideologischen oder politischen Gründen gekämpft, sondern aus christlichen."

Für Küchle geht es an diesem Abend darum, zu zeigen, wie leicht es ist, auf Propaganda hereinzufallen. Selbst Angehörige "antinazistischer" Häuser seien nicht vor den Manipulationen des Naziregimes gefeit gewesen, betont er immer wieder. Auch er selbst nicht, dessen Eltern beide gläubig gewesen seien und jüdische Freunde gehabt hätten. Wohl deswegen, aber vor allem wegen des politischen Engagements des Vaters wurde die Familie lange von der Gestapo beobachtet. Er erzählt von der Reichspogromnacht, ihm sei bis heute nicht klar, wie so etwas habe passieren können. Auf dem Weg in die Schule am Morgen des 10. November, sei viel Rauch zu sehen gewesen. Nach Unterrichtsschluss seien sie zu einer Synagoge gegangen. "Es hieß zwar, wir sollten nicht hinschauen, aber natürlich haben wir das." Ein Rabbiner sei verprügelt worden, auf dem Boden seien Blutspuren und Zähne zu sehen gewesen. In dem Moment wirkt Küchle so, als ob er alles noch einmal erleben würde. So ist es auch, als er erzählt, dass der Weg der Geschwister Scholl 1943 hin zur Guillotine und ihre Hinrichtung nur sieben Sekunden gedauert habe. Dann zählt er still an den Fingern sieben Sekunden ab. "Jetzt gehen sie los," sagt er, "und jetzt sind sie tot".

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