Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Das Gedächtnis von Tutzing

Seit zehn Jahren gibt es in der Gemeinde am Starnberger See bereits ein kleines, aber feines Ortsmuseum. Der Museumsbeauftragte Gernot Abendt sollte zum Jubiläum feierlich verabschiedet werden - doch Corona hat diese Pläne zunichte gemacht

Von Manuela Warkocz

Es hätte ein feierlicher Abend werden sollen. Mit einer feinen Ausstellung über große Persönlichkeiten, die in Tutzinger Straßennamen verewigt sind, wollte sich Gernot Abendt verabschieden. Zehn Jahre lang machte der umtriebige und bestens vernetzte Kulturliebhaber das Ortsmuseum Tutzing immer wieder zu einem attraktiven Besuchsziel. Jetzt will sich Tutzings Museumsbeauftragter im Alter von 76 Jahren von diesem Posten zurückziehen. Corona allerdings verhinderte den würdigen Abschied, den ihm die Gemeinde zeitgleich mit Eröffnung der 25. Sonderausstellung Ende März bereiten wollte. Und auch jetzt ist in dem nur 85 Quadratmeter kleinen ehemaligen Schulhaus noch nicht an Wiedereröffnung zu denken.

Abstandsregeln sind in den drei sehr begrenzten Räumen wohl nur einzuhalten, wenn man nicht mehr als ein, zwei Besucher einließe. Dafür aber will man die ehrenamtlichen, überwiegend älteren Tutzinger Museumsbetreuer und -betreuerinnen nicht gefährden. Abendt und Bürgermeisterin Marlene Greinwald kamen daher überein, das Ortsmuseum bis auf Weiteres nicht zu öffnen. "Ich gehe von einer Schließung bis über den Sommer hinaus aus, wahrscheinlich wird das sogar heuer gar nichts mehr mit der Öffnung", sagt Abendt am Telefon. Der langjährige Tutzinger SPD-Vorsitzende und zeitweilige Dritte Bürgermeister der Seegemeinde nimmt die Situation gelassen hin. Er freut sich, dass die jüngste Ausstellung "Graf von Pocci und der Humor" so erfolgreich war. Die Schau, die bis Anfang März ging, sahen mehr als 600 Besucher. Getoppt wurde sie nur mit der Ausstellung über den Ur-Tutzinger, die mehr als 900 Menschen angesehen haben. In den zehn Jahren lockte das Museum knapp 10 000 Besucher. Was das kleine Haus in einer Dekade schon alles präsentiert hat, zeigt die druckfrische Broschüre zum Zehnjährigen aus der Werkstatt des Tutzinger Grafikdesigners Helmut E. Grund, der alle Ausstellungen begleitet hat. Das 28 Seiten umfassende Heft liegt kostenlos an mehreren öffentlichen Stellen aus.

Gernot Abendt erinnert im Vorwort an die Entstehung des Museums in der nur knapp 10 000 Einwohner zählenden Gemeinde. Die Idee, Tutzings Vergangenheit Zukunft zu geben, geht auf Altbürgermeister Peter Lederer zurück. Er überzeugte 2008 den Gemeinderat, das erste, 1826 errichtete Schulhaus Tutzings am Thomaplatz nahe dem Seeufer als Museum umzubauen. Bis 1880 war das Gebäude als Schule und Wohnhaus für den Lehrer genutzt worden, der gleichzeitig als Mesner der nahen Kirche diente. Zuletzt hatte es die Gemeinde an Bürger mit geringem Einkommen vermietet, bevor es jahrelang leer stand und verfiel. Der Architekt Gottfried Herz übernahm den Um- und Ausbau. Hauptsächlich durch Spenden kamen die 430 000 Euro für die Gesamtkosten zustande. In die Annalen eingegangen ist dabei eine Randposse: Als Hauptsponsor wollte sich ein Unternehmer mit einer Spende über 100 000 Euro hervortun. Allerdings knüpfte der Tutzinger Projektentwickler sein großzügiges Angebot an ein Entgegenkommen der Gemeinde, mit der er wegen Gewerbesteuerschulden im Clinch lag. Im Rathaus winkte man dankend ab.

Als Museumsreferent oblag es Gernot Abendt, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln - gemeinsam mit Archivarin Roswitha Duensing, dem Grafiker Helmut E. Grund, Kustos Manfred Grimm und als Berater Albrecht Gribl, dem damaligen Hauptkonservator der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen. "Zunächst war an ein Heimatmuseum gedacht worden. Etlichen Gemeinderäten klang das aber zu bieder", erinnert sich Abendt. Deshalb wurde es ein "Ortsmuseum". Für Abendt ist das Haus das "Gedächtnis unserer Gemeinde". Letztlich ist in dem mit Liebe zum Detail renovierten und 2010 eröffneten Bau auf 85 Quadratmetern ein zeitgemäßes, sehr überschaubares und trotzdem sehenswertes Museum entstanden. In zwei Räumen sind dauerhaft Ausstellungen zur Ortshistorie zu sehen, wie zur für Tutzing wichtigen Geschichte der Fischerei samt riesigem altem Zugseil, präparierter Renke und Außenbordmotor aus den 30-er Jahren. Fischer Martin Greinwald, Ehemann der Bürgermeisterin Marlene Greinwald, erläutert regelmäßig an Freitagen die Exponate. Zu den Ausstellungsstücken gehören ein altes Zensurenbuch wie auch eine Kopie der Urkunde, in der Tutzing Mitte des achten Jahrhunderts erstmals erwähnt worden ist.

Der dritte Raum ist Sonderausstellungen vorbehalten. Denn nur mit einem wechselnden Angebot lassen sich Besucher immer wieder anlocken, so die Idee. Abendt konnte auf einen reichen Fundus am Ort zugreifen. "Es war überraschend, wie großzügig Tutzinger Mitbürger und Mitbürgerinnen ihre privaten Sammlungen zur Verfügung stellten - mancher auch zweimal und zwar kostenlos für die Gemeinde", wie er betont. Dies sei wirklich nicht selbstverständlich, denn den Sammlern entstünden Kosten, etwa für Verpackung und Transport. Auch sei die Sorge groß, dass Exponate beschädigt werden könnten. So komme es vor, dass alte Briefe während einer Ausstellung vergilben.

Abendt und seine Unterstützer hatten offenkundig Spaß, Schauen mit passenden Extras anzureichern. So wurden zur "Schulgeschichte in Tutzing" eigens Fleißbildchen im historischen Stil gedruckt, Schüler lasen Schülern vor. Zur Ausstellung über das Midgardhaus brachte Promi-Wirt Fritz Häring einen großen Suppentopf mit - "das war die beste Vernissage überhaupt", findet Abendt noch heute. Weihnachtskrippen waren zu sehen, Werke des Malers Paul Kleinschmidt, eine Ausstellung über das Wagner-Sängerpaar Heinrich und Therese Vogl, Tutzing in alten Postkartenansichten, die Abendt selbst kartonweise gesammelt hat; man wandelte auf den Spuren des Ur-Tutzingers vor 3000 Jahren und Spuren des Ersten Weltkriegs in der Seegemeinde, freigelegt von Tutzinger Gymnasiasten, der Werdegang der Baumeisterfamilie Knittl und der Bayerischen Textilwerke, Wissenswertes zum Heiraten in Napoleonischer Zeit, passend zur Fischerhochzeit im Jahr 2017.

Persönlich am Herzen lag Abendt die Schau über Thomas Mann am Starnberger See, die er 2019 mit eigenen Exponaten bestückte. Als Jugendlicher hatte sich Abendt in einem Lungensanatorium erholt und dort den Roman "Zauberberg" gelesen. Seither fühlt er sich mit dem Dichter tief verbunden. Gleich zwei Mal durfte Fred Gerer seine mechanischen Musikinstrumente zeigen. Als der 84-Jährige voller Leidenschaft seine Musikautomaten vorführte, waren Schulkinder so begeistert, dass sie sich schriftlich bedankten. "Das freut einen dann", sagt Abendt. Als seinen "größten Misserfolg" bezeichnet er aber, dass immer weniger Klassen aus den örtlichen Schulen gekommen seien.

An den Eintrittspreisen kann es nicht liegen. Die betragen unverändert seit zehn Jahren zwei Euro für Erwachsene, 50 Cent für Schüler. Abendt bekam für seine Tätigkeit eine monatliche Aufwandsentschädigung von 50 Euro - was auch den Aufwand beinhaltete, nachts um drei Uhr dem Alarm im Museum nachzugehen, den mal wieder mutmaßlich eine Spinne ausgelöst hatte. Die Gemeinde trägt die Kosten für den Unterhalt des Gebäudes, für Flyer, Plakate und Ausstellungstafeln. Personell hat Lisa Gollwitzer aus dem Rathaus Abendt bei der Koordinierung der Ausstellungen unterstützt. Auch Veranstaltungen wie Lesungen, Konzerte oder Volkstänze auf dem Platz sind Bestandteile des Programms. Getraut wird ebenfalls - das Ortsmuseum fungiert als Standesamt.

Im Rathaus weiß man, was man an dem Museum hat. Bürgermeisterin Marlene Greinwald ist voll des Lobes für die vielen ehrenamtlich Engagierten. "Das Ortsmuseum ist für mich in den vergangenen zehn Jahren zu einer wichtigen Bereicherung für Tutzing geworden. Es hält die Geschichte des Ortes fest und vermittelt sie allen Generationen", teilt Greinwald mit und bedauert, dass die geplante Jubiläumsfeier bis auf Weiteres nicht über die Bühne gehen kann. Abendts Nachfolge ist noch offen. Dem Vernehmen nach soll die Zuständigkeit für das Ortsmuseum künftig wieder in den Bereich des Kulturreferenten fallen. An diesem Amt zeigt sich Vize-Bürgermeisterin Elisabeth Dörrenberg (CSU) interessiert. Die Wahl der Referenten für die nächsten sechs Jahre steht im Tutzinger Gemeinderat aber noch aus.

Bis zur Wiedereröffnung des Museums bleiben die Stücke für die Ausstellung "Große Namen - Kleine Straßen. Ortsgeschichte im Spiegel der Tutzinger Straßennamen" bei Eberhard Köstler und Barbara van Benthem. Man darf gespannt sein auf Erhellendes über Tutzinger Persönlichkeiten, wie dem Telegrafen-Oberingenieur Johann Georg Beringer, Hitler-Attentäter Caesar von Hofacker, den Ägyptologen Georg Ebers, die Hofmarksherren Grafen Vieregg, Verleger Eduard Hallberger, Maler Louis Neustätter, den Pelzfarmer und Dichter Oskar Schüler oder die "Geierwally", Wilhelmine von Hillern.

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Quelle:
SZ vom 20.05.2020
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