Lottes Start ist nicht einfach. Sie kommt in der 32. Woche im Klinikum Starnberg zur Welt, mit gerade mal 41 Zentimetern und 1445 Gramm. Kurz nach der Geburt muss das Frühchen wiederbelebt werden, benötigt künstliche Beatmung. Zudem hat Lotte ein Loch im Herzen, einen angeborenen Herzfehler. Die Eltern sorgen sich um ihr Neugeborenes, ihr viertes Kind. "Lotte ist ein echtes Wunschkind, ein Nachzügler", sagt Mutter Susan Seidl. Die ältesten Geschwister, Zwillinge, sind 21 Jahre älter. Auch sie kamen zu früh, wurden in der 33. Woche per Kaiserschnitt geholt. "Aber damals gab es noch nicht diese Unterstützung", erinnert sich die Mutter. Und ist froh, dass sie mit Lotte bei deren Geburt im Jahr 2017 Hilfe vom Frühchen-Netzwerk Harlekin erhielt. Zum Beispiel wegen der extremen Schlafstörungen ihres Babys. "Lotte wurde alle fünf bis zehn Minuten wach."
Bis heute hält Susan Seidl den Kontakt zu der kostenlosen Beratungsstelle, die es im Landkreis Starnberg seit 2015 gibt. Denn Lotte - sie feierte gerade ihren dritten Geburtstag - benötigt zwei Mal die Woche Ergotherapie und heilpädagogische Behandlung. Sie reagiert mit Schreien und Weinen auf andere Menschen, akzeptiert höchstens drei Kinder und mag es gar nicht, wenn man sie anfasst oder badet. "Aber organisch ist sie gesund, das ist das Wichtigste", sagt die Mutter.
Wie man mit auffälligem Verhalten möglichst gelassen umgeht, versuchen Sabine Schmidt, Sozialpädagogin Andrea Nixdorf-Weber und Heilpädagogin Christina Dorp den Eltern zu vermitteln. Schmidt ist die Koordinatorin der Harlekin-Nachsorge im Landkreis. Deren Ursprung geht auf Mitarbeiter der Kinderabteilung im Harlachinger Krankenhaus zurück. Sie gründeten 1996 einen Verein, um Eltern mit Frühchen in den belastenden ersten Wochen und darüber hinaus zu unterstützen. Es entstand ein bayernweites Netzwerk, dem sich 2015 auch die Interdisziplinären Frühförderstellen Starnberg/Gilching der Lebenshilfe Starnberg anschlossen. Finanziert durch das Bayerische Staatsministerium, war der Landkreis Starnberg zu diesem Zeitpunkt der 20. Standort im Freistaat.
Eng ist die Zusammenarbeit zwischen der Lebenshilfe Starnberg und der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Klinikum Starnberg. Chefarzt Professor Thomas Lang weiß das Engagement des Harlekin-Teams sehr zu schätzen. "Die Harlekin- Nachsorge bietet eine professionelle Begleitung für Familien von früh- und risikogeborenen Kindern an", sagt Lang. Das fachliche Wissen um die Besonderheiten und die Folgen einer Frühgeburt sei in der Beratung sehr hilfreich.
Einer aktuellen Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge kommt eines von zehn Neugeborenen vor Ablauf der üblichen 40. Schwangerschaftswoche zur Welt und ist damit ein sogenanntes Frühchen. Allein in Deutschland werden jährlich etwa 63 000 Kinder vor der 37. Schwangerschaftswoche geboren, zirka 8000 davon sogar noch vor der 30. Woche. Das Geburtsgewicht liegt häufig unter 1500 Gramm, die Organe sind noch nicht voll ausgereift. Und so geht es für die Neugeborenen erst einmal auf die Neugeborenen-Intensivstation zur weiteren Behandlung.
"Für die Eltern ist das natürlich sehr belastend, wenn sie ihr Kind mit den Schläuchen und der Verkabelung sehen und die Abhängigkeit vom System Krankenhaus spüren", so Sabine Schmidt. Sie und ihre Kolleginnen werden im Klinikum unterstützt von den Kinderkrankenschwestern Simone Vogl und Natascha Degraf sowie Oberarzt Michael Mair, dem Leiter der Neonatologie. "Sie alle kennen die Familien und wissen, welche Eltern Beratungsbedarf haben, vor allem bei Mehrlingsgeburten", so Schmidt, die zweimal wöchentlich auf der Neugeborenen-Intensivstation vorbeikommt. Nach Rücksprache mit Ärzten und Ärztinnen, Pflegern und Pflegerinnen sucht Schmidt die passende Anlaufstelle für die Eltern heraus. Neben Harlekin kommen als Vernetzungsangebot auch die Koordinierende Kinderschutzstelle des Landkreises (KoKi) oder die Stiftung "Der Bunte Kreis" in Frage. Ziele sind unter anderem, stationäre Wiederaufnahmen zu reduzieren, die Eltern zu stärken, Familie und Partnerschaft zu stabilisieren
"Für die Eltern ist es wichtig, dass jemand für sie da ist und sie auch einfach mal die Tränen laufen lassen können", so Schmidt. Neben der "starken Schulter zum Anlehnen" gibt es freilich auch praktische Hilfe wie Tipps zur Entwicklung und Pflege des Kindes oder auch zur Interaktion mit dem Säugling. "Viele wissen beispielsweise gar nicht, dass sie auch den Mutterschutz verlängern können", so Schmidt. Ob und wie lange die Eltern das Harlekin -Angebot annehmen, können sie "natürlich selbst entscheiden".
Alle Hausbesuche sowie die Beratungen sind kostenfrei. Rund 40 Eltern werden jährlich betreut. In Starnberg soll das Team nun weiter ausgebaut werden. Ausgesetzt sind derzeit Corona-bedingt die Eltern-Kind-Treffen. "Sie sind normalerweise eine gute Gelegenheit für die Eltern, Kontakte zu anderen Betroffenen zu knüpfen", so Schmidt. Dass diese lockeren Zusammenkünfte ausfallen bedauert auch Susan Seidl. Sie trifft sich dort gern mit einer anderen Mutter, die sie mit Lotte auf der Frühchen-Intensivstation kenngelernt hat.
Kontakt: Harlekin-Nachsorge Starnberg, Telefon 08105/25930, E-Mail harlekin@lhsta.de