Das Klassenzimmer hat keine Türen und Fenster, keine Tafel, keine Wände. Dafür duftet es nach frischen Fichtennadeln. Der Boden ist weich, nachgiebig und mit grünem Moos bedeckt. Hier stehen weder Tische noch Stühle, sondern Baumstümpfe, über die die Kinder klettern. Sie balancieren auf Holzstämmen, lassen sich zwischen Farnen und Wurzeln auf den Waldboden nieder. Gelernt wird trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen. „Was man mit Spaß erlebt, das bleibt hängen“, sagt Christine Achhammer. Sie ist Revierleiterin für den Bereich Forsten im Weilheimer Amt für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. „Man schützt nur, was man auch kennt“, beschreibt sie das Ziel des grünen Klassenzimmers.
Gemeinsam mit weiteren Försterinnen, Förstern und sogenannten Forstpaten betreut sie über 400 Kinder bei den Walderlebnisspielen im Gautinger Gemeindewald. Seit 2012 gibt es die Veranstaltung. Auf zwei Tage aufgeteilt wurden zwölf dritte Klassen aus dem Landkreis Starnberg durch den Wald geführt. „Mit Geschicklichkeits- und Ratespielen wollen wir alle Sinne mit Kopf, Hand und Herz ansprechen“, erklärt Harald Appelt, Revierleiter in Gauting. In der dritten Jahrgangsstufe steht das Thema Wald auf dem Lehrplan der Grundschulen. Der Besuch draußen rundet den Theorieunterricht an den Schulen ab. „Damit erfüllen wir unseren waldpädagogischen Bildungsauftrag, nach dem alle dritten Klassen einmal mit einem Förster im Wald gewesen sein müssen“, erklärt der Förster.
Das sei auch dringend notwendig, denn angesichts des Klimawandels haben Wälder eine immer größere Bedeutung. Doch die Förster haben festgestellt, dass die Kinder seltener draußen in der Natur sind und sich deswegen später vielleicht weniger für deren Erhalt einsetzen.
Für die Kinder sind die Waldtage ein großes Abenteuer. Die Schulbusse halten am Waldrand, die Türen gehen auf, die Kinder steigen aus – keine fünf Sekunden später beginnt für sie bereits die Entdeckungstour. Die ersten suchen nach geeigneten Wanderstöcken, sammeln Tannenzapfen und Rindenstücke, beäugen Käfer. „Wir müssen sie gar nicht groß motivieren“, sagt die Försterin. Neugier und Begeisterung sind sofort da. Zumindest bei den meisten.
„Wir zeigen, dass es im Wald schön ist, angenehm kühl und man gerne hier ist.“
Denn während der Großteil unbefangen zwischen Ästen und Wurzeln herumturnt, gibt es immer auch Einzelne, die zögern und sich nicht so recht trauen, den festen Weg zu verlassen. Manche fürchten sich vor Krabbeltieren oder dem, was im Unterholz raschelt. Die Förster kennen das und bemühen sich, Hemmschwellen abzubauen. Mit einem Vorurteil räumen sie besonders auf: dass Kinder vom Land sich besser im Wald auskennen als Kinder aus der Stadt. „Es gibt sogar Kinder, die in der Nähe von einem Wald aufwachsen, aber nie hineingehen“, sagt Achhammer. „Nicht der Wohnort ist entscheidend, sondern es kommt darauf an, was die Eltern mit ihren Kindern unternehmen“, stimmt Appelt zu. Auch die Medien seien mitunter schuld daran, dass der Wald als dunkel, unheimlich oder sogar gefährlich wahrgenommen wird. „Wir zeigen, dass es im Wald schön ist, angenehm kühl und man gerne hier ist“, versichert Achhammer.
Auf ihrem dreistündigen Rundgang kommen die Kinder an sechs Spielstationen vorbei. „Tannenzapfenwerfen“ heißt eine. Mit großem Hallo fliegen die gesammelten Zapfen durch die Luft – gezielt wird in einen Eimer. Weiter geht’s zur „Blätterangel“: Die Kinder fischen mit Stöcken, an denen Haken angebracht sind, bunt laminierte Blätter vom Waldboden und hängen sie an ein Ästegestell. Und natürlich werden Verhaltensregeln wie „Müll mitnehmen“ vermittelt.

Auch Landrat Stefan Frey ist an diesem Tag im Wald dabei. Der Landkreis unterstützt die Aktion. „Die Kinder gewöhnen sich so früh an die Natur und lernen, mit ihr achtsam umzugehen“, beschreibt er das Ziel, bevor er selbst zu Tannenzapfen greift und seine Treffsicherheit testet. Bei einer Buche zeigt eine Forstpatin auf ein angepinntes Herz. Die Kinder sollen raten: Wo befindet es sich in 20 Jahren? Ein Junge weiß es: „Es bleibt auf der gleichen Höhe, weil nur der obere Teil des Baums wächst.“
Ein paar Schritte weiter sitzen Kinder im Moos und machen Brotzeit. Sie haben nicht nur Brotdosen dabei, sondern hantieren mit Pfeifen aus Stöckchen und Zapfenteilen, in die sie Moos als „Tabak“ gestopft haben. Die Kinder haben sich die Waldpfeifen selbst ausgedacht. „Damit rauchen wir frische Luft“, erklären sie. Die Förster lachen. Die Bastelaktion stand zwar nicht auf dem Programm – passt aber bestens zum Konzept. „Letztes Jahr haben Kinder Rindenschiffchen gebastelt“, erklärt Achhammer. Der Wald setzt ungeahnte Kreativität frei.

An einer anderen Station liegen Baumscheiben bereit. Die Kinder sollen sie zunächst den richtigen Bäumen zuordnen: Pappel, Fichte, Birke, Buche. Die Unterschiede erkennen sie an der Farbe, Struktur, Rinde. Dann wird gestapelt. Die Türme geraten bald ins Wanken. Doch ans Aufgeben denkt niemand. Es wird immer wieder neu gebaut bis der Turm endlich steht.
Die eigentlichen Lieblinge an diesem Vormittag hatten aber vier Pfoten und ein weiches Fell: Dackel Nelli und Jagdhund Bretzel, beide im Besitz der Förster, genießen ihre Rolle sichtlich. Immer wieder hocken Kinder neben ihnen im Moos, kraulen die Ohren und dürfen sie sogar hin und wieder an der Leine führen.