Martina verrät ihre Tricks: Jeden Tag stelle sie sich die Eieruhr zum Aufräumen. Zehn Minuten. Das sei gut zu schaffen und mache in der Summe eine gute Stunde Ordnungszeit pro Woche. Außerdem hebe sie Dinge, die auf den Boden fielen, gleich auf. Denn wenn dort erst einmal zwei, drei Dinge lieben blieben, könne es mitunter passieren, dass sich die 53-Jährige nicht mehr so bald bückt. Martina hat das Messie-Syndrom. Vor drei Jahren war der Boden ihrer 52 Quadratmeter großen Wohnung in Fürstenfeldbruck fünf Zentimeter hoch von zusammengetretenem Müll bedeckt, "da hat man gar nicht mehr erkennen können, was das einmal war", erzählt sie. Nachbarn hätten sich über den Gestank aus ihrer Wohnung beschwert, der Vermieter hatte eine Abmahnung geschickt und Martina wurde damals klar: "Ich brauche Hilfe."
Die 53-Jährige ist eine gepflegte Frau, sie arbeitet im Labor einer Klinik. Dass sie daheim Müll sammelt, wissen nur wenige Freunde, darunter Michael Schröter. Der 70-Jährige leitet das Messie-Hilfe-Team, ein Sozialunternehmen mit Sitz in Gauting. Bundesweit beraten er und seine Helfer Betroffene und Angehörige und helfen beim Entrümpeln, Sortieren und Putzen. 1,8 Millionen Messies leben Schätzungen zufolge in Deutschland, mehrere Hunderttausend sollen es im Freistaat sein. Schröter sagt, er habe in den vergangenen 20 Jahren mit etwa 2000 Messies Kontakt gehabt und 1000 zugemüllte Wohnungen gesehen. Der Münsinger erzählt von einer jungen Mutter und ihren vier Kindern, die mit hunderten Ratten ein Haus bewohnt habe und einem Mann, der überall in der Wohnung uriniert habe, "der ganze Boden war schwarz". Schröter habe den weinenden Mann in seinem Chaos einfach umarmt, erzählt er. Ekel kenne er kaum, lediglich Bettwanzen und Flöhe meide er.
"Diese Menschen sind psychisch krank", sagt Schröter. Nach seiner Erfahrung sei der Auslöser "meist eine Depression", die Ursachen seien vielfältig: Traumata wie sexueller Missbrauch in der Kindheit und andere Gewalterfahrungen, mangelnde Zuwendung der Eltern in den frühen Lebensjahren, der Verlust des Partners oder soziale Isolierung. Schröter verdient mit Messies seinen Lebensunterhalt, sie seien ihm aber mehr als Kunden. "Ich will sie verstehen", sagt der gelernte Schriftsetzer und Kommunikationswirt. Einige Betroffene begleite er über Jahre, oft sei er ihnen der einzige Ansprechpartner. Zu groß sei die Scham, zu groß die Angst vor Entdeckung.
Einmal im Monat lädt Schröter zum Messie-Frühstück in seine "Akademie" nach Gauting, wo er auch seine Helfer ausbildet. Die Runde biete einen "geschützten Raum", wie er sagt. Ihre Nachnamen wollen die Teilnehmerinnen lieber nicht in der Zeitung lesen. Für Martina ist sie längst wie "eine Familie" geworden. Und auch Gabriele, 63, kommt regelmäßig. Bei Kaffee, Semmeln und Weißwürsten und Kerzen auf den zusammengeschobenen Tischen tauscht sie sich mit den anderen Teilnehmern aus, meist kommen zwischen fünf und zehn Personen. Das Ziel der Frührentnerin ist es, "da rauszukommen", wie sie sagt. Etwa einen Meter hoch stapelten sich die Dinge in ihrer Gautinger Wohnung momentan, "wenn sich der Strom- oder Wasserableser anmeldet, versetzt mich das in höchsten Stress". Wie Martina Dinge gleich aufzuheben, die auf den Boden fallen, das gelinge ihr nicht. "Wenn ich es könnte, würde ich es tun", sagt sie mit ernstem Blick.
Schröter unterscheidet im Krankheitsbild zwischen Sammlern und Vermüllern. "Der Sammler hat Angst vor der Leere", erklärt er. Der Vermüller habe jeglichen Selbstwert verloren, "er fühlt sich selbst wie Müll". Hilfe beim Aufräumen sei deshalb nur ein Teil der Hilfe, mindestens genauso wichtig sei eine Psychotherapie - und nach dem Entrümpeln eine Nachsorge. Sonst bestehe die Gefahr des Rückfalls. Martina hat es selbst erlebt, zweimal habe sie Schröter bereits bestellen müssen. Zwischen etwa 1000 bis zu 36 000 Euro koste die "Wiederherstellung hygienischer Wohnverhältnisse", wie er sagt. Die Krankenkassen übernähmen die Kosten nicht, obwohl das Messie-Syndrom inzwischen als Krankheit anerkannt sei. Je nach Wohnort unterstützten aber einzelne Sozialämter oder die Jobcenter. "In München klappt das sehr gut, im Landkreis Starnberg ist es schwierig", sagt Schröter.
Cornelia, 58, sagt, sie könne alles gebrauchen. Joghurtbecher ebenso wie leere Klopapierrollen, Folien oder Kartons und kistenweise Klamotten. Zusammen mit ihrem Mann und einer Tochter wohnt sie in einer 90 Quadratmeter großen Wohnung in München, "ich habe lange nicht akzeptiert, dass ich Hilfe brauche", sagt sie. Erst bei einer Kur habe sie gelernt, dass sie "auch traurig sein darf". Sie wünscht sie eine Begleitung beim Ausmisten. Alleine komme sie nie weit.
Auch Sabine aus Andechs spart für eine Entrümpelung. Seit dem Tod der Eltern umgebe sie sich mit Dingen, "die mir keiner mehr wegnehmen kann", wie sie sagt. Stolz berichtet sie, wie sie neuerdings ein Körbchen als festen Platz für Schlüssel, Geldbeutel und Handy eingerichtet hat. "Ich hatte ja nichts mehr gefunden." Die Familie attestiere ihr regelmäßig "einen Dachschaden", ehrliche Hilfe habe noch niemand angeboten. Davon seien aufgezwungene Räum- und Putzaktionen explizit ausgenommen.
Was Martina, Gabriele, Cornelia und Sabine sich wünschen? Dass man sie nicht als faul, dreckig und unorganisiert stigmatisiert. Schließlich haben sie alle viele Jahre lang in durchaus anspruchsvollen Jobs als Abteilungsleiterinnen oder in Anwaltskanzleien gearbeitet, Kinder großgezogen, sich gemeinnützig engagiert. Peter - an diesem Samstag neben Schröter der einzige Mann in der Runde - hat selbständig als Programmierer gearbeitet, bevor er in eine depressive Phase rutschte und seine Wohnung in München vermüllte. "Wenn es aufgeräumt ist, ist es ungemütlich", sagt der 51-Jährige. Die anderen nicken. Dieses Gefühl kennen sie.