Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Filmkulissen rund um München:Wo das Grauen sichtbar wird

Oscar-Preisträger Florian Gallenberger dreht 2014 unter anderem in Gauting "Colonia" mit Emma Watson und Daniel Brühl. Es geht, beruhend auf einer wahren Geschichte, um einen deutschen Sektenführer in Chile.

Von Astrid Becker

Das Erste, was verschwinden muss, ist der Geruch: "Sie können sich nicht vorstellen, was das für ein Gestank war. Dabei stand der Schweinestall schon so lange leer", erinnert sich Florian Gallenberger. Ein Reinigungstrupp muss also anrücken, aber einer, der mit größtem Feingefühl seine Arbeit verrichtet. Denn jeder Kratzer, jeder Fleck an der Wand, jedes Stück abgeblätterter Putz gehöre zur Patina, und die, so sagt Gallenberger, "ist für uns Gold wert". Wovon der Filmregisseur und Oscar-Preisträger in diesem sehr speziellen Fall spricht, ist das ehemalige Krankenhausgelände in Gauting hinter der heutigen Asklepios-Fachklinik für Lungenkrankheiten, tief im Wald versteckt.

Ein wenig gruselig, düster und beklemmend wirken diese Bauten, deren Geschichte bis in den Nationalsozialismus zurückreicht: 1938 sind die ersten von ihnen als Kaserne für die Luftwaffe erbaut worden, später, nach dem Kampf um Stalingrad, wurden sie zum Lazarett für lungenkranke Soldaten. Nach dem Zweiten Weltkrieg dienten sie vielen ehemaligen jüdischen KZ-Häftlingen als Krankenhaus. Dass sie noch existieren, dass es dort zudem einst eine Schusterei, ein Kino, eine Gärtnerei und vieles andere mehr gegeben hat, dürfte vielen Einheimischen nicht mehr bekannt sein.

Auch Gallenberger, selbst im Würmtal aufgewachsen, hört davon zum ersten Mal, als es vor gut acht Jahren um mögliche Drehorte für seinen Film "Colonia Dignidad - Es gibt kein Zurück" geht: "Da war plötzlich von einem ehemaligen Klinikgelände in Gauting die Rede. Ich wollte das erst gar nicht glauben: Ich hatte noch nie davon gehört", erzählt der 50-jährige Münchner, der seine Kindheit und Jugend im Gautinger Ortsteil Stockdorf verbracht hat. Dort besucht er auch die Grundschule - und erfährt dort von einem Ort in Chile, an dem Menschen gewaltsam festgehalten und gequält werden: "Das war in der dritten Klasse, ich kann mich noch an den Fernseher erinnern, mit dem uns eine TV-Reportage darüber gezeigt worden ist." Der Ort, von dem er spricht, das war die Sektensiedlung "Colonia Dignidad" in Parral, 400 Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile.

2010 wird Gallenberger, mittlerweile längst ein bekannter Filmregisseur, wieder damit konfrontiert. Eines Tages flattert ihm eine Drehbuchidee zu Colonia Dignidad auf den Tisch. Gallenberger kann nicht anders, er will einer breiten Öffentlichkeit zeigen, was dort an unfassbarem Unrecht geschehen ist, vor dem das Auswärtige Amt in Deutschland jahrelang die Augen verschlossen hat. Er reist nach Chile, schaut sich das mehr als 30 Quadratkilometer große Gelände der Colonia Dignidad, der "Kolonie Würde", persönlich an. Schon allein der Name mutet extrem perfide an für eine Sekte, deren Guru, Paul Schäfer, Anfang der Sechziger als Laienprediger aus Deutschland ausgewandert war, wo er bereits der Pädophilie bezichtigt worden war. In Chile baut er mit seinen Gefolgsleuten ein skrupelloses und totalitäres Regime auf: mit Hilfe von Psychoterror, Folter, Unterdrückung, brutalen Züchtigungen und schwersten Misshandlungen, die bis zum täglichen sexuellen Missbrauch von Jungen reichen.

Die Siedlung "Colonia Dignidad" gibt es noch immer, allerdings nennt sich das Areal heute "Villa Baviera". Noch immer leben dort ehemalige Sektenmitglieder, so erzählen es auch Gallenberger und Filmproduzent Benjamin Herrmann. Menschen, die nach Schäfers Flucht und Tod 2010 nicht wissen, wohin sie gehen könnten. Gallenberger führt viele Gespräche mit ihnen, gewinnt ihr Vertrauen, erzählt von seinen Filmplänen. Davon, dass er das Grauen und das Leid, das ihnen widerfahren ist, samt der politischen Verwicklungen Schäfers und dessen unheilvolle Allianz mit Deutschland so realitätsnah wie möglich, aber eingebettet in eine fiktive Rahmenhandlung darstellen will.

Gallenbergers Film spielt im September 1973. Die Stewardess Lena (dargestellt vom Emma Watson) nutzt einen Flug nach Chile, um dort ihren Freund Daniel zu besuchen. Daniel ist Fotograf und in Santiago Teil einer studentischen Aktivistengruppe, die den demokratisch-sozialistischen Präsidenten Salvador Allende unterstützt. Die beiden geraten mitten in den Militärputsch von General Augusto Pinochet, der das Land fortan als Diktator regieren sollte. Daniel wird festgenommen und an einen geheimen Ort verschleppt. Lena beginnt nach ihm zu suchen, erfährt von Colonia Dignidad, einer berüchtigten Siedlung und Sekte unter Paul Schäfer, die sich nach außen mildtätig gibt, aber in Wahrheit mit Pinochets Geheimpolizei Dina kooperiert. Sie weiß zwar, dass es bisher niemandem gelungen ist zu fliehen, aber sie will es zusammen mit Daniel dennoch versuchen. Sehr spät müssen beide erkennen, dass dies nahezu unmöglich ist: Denn die deutsche Botschaft, die sie schließlich um Hilfe bitten können und die sie mit neuen Pässen und Rückflugtickets ausstattet, paktiert mit Schäfer.

Der Film spielt zwar in Chile, gedreht worden ist dort aber keine einzige Szene. Zu massiv modernisiert, begründet das Gallenberger. Stattdessen filmen er und sein Team zum Beispiel im argentinischen Buenos Aires, in den weitläufigen Kasematten unter der Hauptstadt Luxemburg, im Stadtbad Tiergarten Berlin, im Gasthaus "Freudenhaus" in Kleinberghofen bei Dachau, im Amerikahaus in München sowie im Schlachthofgelände - und eben in Gauting. Die Bedingungen dort nennen Gallenberger und Filmproduzent Herrmann ideal: keine Nachbarschaft, niemand, der dort arbeiten muss, und jede Menge Motive aus der Zeit, in der der Film spielt.

Da sind zum Beispiel ehemalige Krankenzimmer, die noch immer als solche zu erkennen gewesen seien, erzählt Gallenberger. Perfekt seien sie für die Szenen gewesen, in denen Brühl als Daniel nicht nur untersucht, sondern auch medizinisch behandelt wird.

Dann die Duschen, in denen Paul Schäfer in einer recht verstörenden Szene mit Knaben verschwindet, "alles in Grundzügen so vorhanden, dass wir es entsprechend umbauen konnten". Oder auch das Zimmer, in dem Schäfer seine "Verhöre" mit scheinbar sündigen Sektenmitgliedern führt. Auf dem Beistelltisch dort sind im Film eine weiße Knabenbüste und eine Lupe zu sehen. Sie stammen aus Schäfers Originalbesitz: Gallenberger hat beides aus Chile mitgebracht. Und dann ist da auch noch der Schweinestall, der zur ehemaligen Gärtnerei auf dem Gelände gehört - ein düster wirkender Raum, wie geschaffen für den Schlafsaal der Frauen. Emma Watsons Figur Lena ist, wie all die anderen weiblichen Sektenmitglieder, dort streng getrennt von Männern und Kindern untergebracht. Der einstige Kinderstar aus den Harry-Potter-Filmen muss während der fünf Drehtage in Gauting Anfang November 2014 aber keinen strengen Schweinegülle-Geruch mehr ertragen. Er ist perfekt beseitigt worden. Alles andere, so sagt Gallenberger, wäre unzumutbar gewesen. Aber irgendwie auch passend zu dem, um was es in seinem Film geht.

Nachdem der Film nebst Dokumentation 2015 erscheint, beginnt auch die Bundesregierung mit der Aufarbeitung dieser Geschichte. Die Jahrzehnte unter Verschluss gehaltenen Akten werden geöffnet, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier trifft sich 2016 mit Angehörigen der Colonia-Opfer. Er räumt massive Fehler ein und verspricht Hilfe. Gallenberger hat erst vor Kurzem wieder einen Brief von einem Psychologen erhalten, mit dem er in Chile in "Villa Baviera" war und der im Auftrag des Auswärtigen Amts die Opfer wegen ihrer vielfältigen Traumata behandelt: "Er schrieb mir, dass diese Unterstützung nun verlängert worden ist - das ist eine echte Belohnung und zeigt mir, dass wir unser Ziel nicht verfehlt haben." Produzent Benjamin Herrmann formuliert es noch deutlicher: "Ja, wir sind stolz auf Colonia Dignidad - und darauf, was dieser Film am Ende alles bewirkt hat."

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