Besuchsverbot in Kliniken:In den schwersten Stunden allein

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Patienten mit und ohne Coronavirus leiden unter dem Besuchsverbot. Ralph Kirchner geht in Gauting durch "die Hölle", wie er sagt. Seine Frau Iris überwindet die Angst mit einem tröstenden Gedanken.

Von Carolin Fries, Gauting

Wie gerne hätte sie seine Hand gehalten, ihm in die Augen geblickt und kurz über den Kopf gestreichelt. "Nur zehn Minuten bei ihm sein." Doch Iris Kirchner darf ihren Mann nicht in der Klinik besuchen, wegen der Pandemie gilt seit Ende Oktober ein strenges Besuchsverbot in der Gautinger Asklepios-Klinik. Als es Ralph Kirchner so schlecht geht, dass er kaum sprechen kann, versucht sie, ihn am Telefon aufzubauen: "Halte durch", "sammle Deine Kräfte". Der 62-Jährige sagt nur: "Ich kann nicht mehr." Und jetzt? Iris Kirchner fehlen die Worte, sie weint. Dann legt sie auf, fühlt sich so weit weg und allein.

Auch Ralph Kirchner ist allein, fünf Wochen lang in einem Einzelzimmer. "Es war die Hölle", erinnert er sich. Dabei sollte es eigentlich aufwärts gehen für ihn mit der Immuntherapie nach der Blasenkrebs-Diagnose. Doch dann treten Komplikationen auf, noch in der urologischen Klinik entwickelt sich eine sogenannte BCGitis, eine seltene Infektion ähnlich der Tuberkulose. Der 62-Jährige wird in die Lungenfachklinik nach Gauting verlegt. In den ersten zwei Wochen plagen ihn Fieberschübe und Schüttelfrost, er hat kaum Kraft. "Es war knapp und ich hatte selber Angst um mich. Doch für meine Frau zu Hause war es viel schlimmer."

Ralph Kirchner schaut aus dem zweiten Stock der Asklepios-Klinik in Gauting hinunter zu seiner Frau Iris. (Foto: Privat)

In vielen Kliniken sind Besuche untersagt. Patienten leiden, weil sie ihre Lieben nicht sehen können - die einen, weil sie selbst mit dem Coronavirus infiziert sind, die anderen, weil sie und die anderen Kranken vor dem Erreger geschützt werden müssen. Und den Angehörigen geht es nicht anders. In Herrsching konnten sie zuletzt mit ihren infizierten Familienmitgliedern telefonieren, erklärt die Schindlbeck-Klinik, sich aber nicht persönlich verabschieden, als diese im Sterben lagen.

In der Gautinger Klinik leitet die Psychotherapeutin Antje Vollmering-Riese den psychosozialen Dienst, sie sieht in der Pandemie nahezu täglich, wie Patienten per Smartphone und Computer versuchen, irgendwie zusammenzusein, Kontakt zu halten. Das Problem: "Ein echter Eindruck vom Zustand des Angehörigen in der Klinik lässt sich so kaum gewinnen." So liebevoll und tröstend die Worte aus dem Hörer oder vom Bildschirm auch sein mögen: "Das emotionale Grundbedürfnis nach echter Nähe lässt sich durch nichts ersetzen."

In Gauting versuchen Klinikseelsorgerin Susanne Schwarz (li.) und Psychotherapeutin Antje Vollmering-Riese zu helfen. (Foto: Arlet Ulfers)

Doch wer soll all die Hände halten, die gehalten werden müssten, wo noch dazu die Hilfe der ehrenamtlichen Mitarbeiter in den Kliniken pandemiebedingt wegfällt? Und wer soll die Angehörigen aufbauen, die wie Iris Kirchner nach manch einem Telefonat vor Sorge zu platzen meinen? "Ich wollte mir schon einen Schutzanzug kaufen, einfach um ihn mal sehen zu können."

Ralph Kirchner schickt seiner Frau regelmäßig die abfotografierten Laborberichte aufs Tablet, erklären kann er sie nicht. Zu Hause in Thaining im Landkreis Landsberg am Lech, keine Stunde mit dem Auto entfernt, sitzt Iris Kirchner und googelt: Was hat es zu bedeuten, wenn der Leberwert ums Fünffache erhöht ist? Zwei-, dreimal ruft sie in der Klinik an, weil sie die Ungewissheit nicht mehr aushält. Immer sind alle beschäftigt.

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Sie hätte um einen Rückruf bitten können, Angehörigengespräche am Telefon gehören inzwischen zur ärztlichen Routine. "Doch ich wusste ja, dass dort viel los war. Dass dort auch Corona-Patienten liegen, denen es schlechter geht." Sie beschließt, nicht die lästige Ehefrau eines Patienten sein zu wollen, dem es dann doch gar nicht so schlecht geht. Und tröstet sich mit eben diesem Gedanken. "Würde es ihm richtig schlecht gehen, würde sich die Klinik doch sicherlich melden." Iris Kirchner setzt Vertrauen in diese Annahme, deren Substanz sie nie überprüft hat. Sie legt abends Handy, Festnetztelefon und Tablet neben das Bett. Kein Arzt hat mit ihr darüber gesprochen, ob sie in die Klinik dürfte, um sich von ihrem Mann zu verabschieden, sollte dieser dort sterben.

Als er wieder aufstehen kann, verabredet er sich mit seiner Frau am Fenster. Beide weinen

"Das wird von Fall zu Fall individuell besprochen", sagt eine Kliniksprecherin. Letztlich sei es eine ärztliche Entscheidung. Klinikseelsorgerin Susanne Schwarz erinnert sich an einen Fall, da saß die Frau mit dem Coronavirus infiziert zu Hause, während ihr Mann in der Klinik starb. "Das hinterlässt eine Ohnmacht." Andere stehen von Kopf bis Fuß in Schutzkleidung gehüllt am Bett ihrer Angehörigen, um sich zu verabschieden. "Es ist für alle eine Herausforderung", so Antje Vollmering-Riese.

Seine Frau darf Ralph Kirchner während seiner fünfwöchigen Behandlung nicht besuchen. Diese Regelung belastet Patienten wie Angehörige. (Foto: Privat)

Iris Kirchner spricht in den gesamten fünf Wochen keinen Arzt, sondern wendet sich mit Fragen an einen Freund, der Virologe ist. "Da hatten wir natürlich großes Glück", sagt Ralph Kirchner. Kinder haben die beiden keine. Der Freund ist der einzige Ansprechpartner. Um sich keinesfalls mit dem Coronavirus anzustecken, um für ihren Mann da sein zu können, isoliert sich Iris Kirchner zu Hause. Sie bleibt auf "der anderen Seite", wenn sie mit ihrem Mann telefoniert. Wie gerne würde sie diese unsichtbare, aber so mächtige Mauer einreißen, die sie trennt.

Die beiden haben sich in jungen Jahren in der Ausbildung kennengelernt und waren seither kaum einen Tag getrennt. 27 Jahre lang haben sie zusammen eine Guest-Ranch in den USA betrieben, bevor sie vor einem Jahr zurück nach Deutschland kamen. Im Krankenhaus telefonieren sie, manchmal auch mit Video, jeden Morgen und abends vor dem Schlafen, "zwischendrin nach Lust und Laune". Zum 42. Jahrestag gibt Iris Kirchner am Empfang eine rote Rose mit einer Karte ab. Auch Obst und Knäckebrot bringt sie vorbei, alles eben, wonach es ihrem Mann gelüstet, der langsam zu Kräften kommt. Als Ralph Kirchner wieder aufstehen kann, verabreden sie sich am Fenster. Er im Bademantel mit Handy am Ohr im zweiten Stock, sie im Anorak mit Handy im Klinikgarten. Als sie sich so das erste Mal wieder sehen, müssen sie weinen. "Das war schon ein extremes emotionales Glücksgefühl", sagt Ralph Kirchner. "Er war so mager", erinnert sie sich. "Mir ist es gleich besser gegangen", sagt er.

Seit vier Wochen ist Ralph Kirchner wieder zu Hause, er erholt sich langsam. Was ihm dabei besonders hilft? Er sagt nur: "Dass jemand da ist."

© SZ vom 19.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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