Süddeutsche Zeitung

Gauting:Auge in Auge

Gymnasiasten befassen sich in einem Projekt des Freistaats mit Avner Werner Less, der NS-Verbrecher Adolf Eichmann verhört hat

Von Sabine Bader, Gauting

Sie sind Forschungsreisende, die Schüler der Klasse 9 b des Gautinger Otto-von-Taube-Gymnasiums. Natürlich nicht physisch. Sie forschen historisch. Ein Schülerprojekt machts möglich: Es beschäftigt sich mit dem Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann, der sich heuer zum sechzigsten Mal jährt. Neben den Gautinger Schülern nehmen noch drei weitere Klassen in Bayern am Projekt teil, das Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle gemeinsam mit Justizminister Georg Eisenreich (beide CSU) initiiert hat.

Besonders die Person von Avner Werner Less interessiert die Schüler im Zusammenhang mit dem Prozess. Less leitete das Verhör Eichmanns 1960/61 in Jerusalem. Monat um Monat, 32 Wochen lang, insgesamt 275 Stunden saß er dem Verbrecher gegenüber. In dieser Zeit hat Less sein Gegenüber genau studiert. Er wurde laut einschlägiger Quellen der perfekte Kenner von Eichmanns Strategie. Mehrfach änderte auch Less seine Verhörtaktik, um Eichmann, der ein meisterhafter Lügner gewesen sein muss, wenigstens hie und da wahrheitsgemäße Aussagen zu entlocken.

Markus Greif, Studiendirektor am Otto-von-Taube-Gymnasium, hatte seinen Kollegen und Geschichtslehrer Johannes Weikmann auf das bayernweite Schülerprojekt aufmerksam gemacht und den Kontakt zum Ministerium hergestellt. Weikmann betreut das Schulprojekt mit dem etwas sperrigen Titel "60 Jahre Eichmann-Prozess - Vergangenheit mahnt, die Gegenwart darf nicht schweigen um der Zukunft willen". Grundlage für die Recherchen der Jugendlichen ist das Buch "Lüge! Alles Lüge!" von Avner Werner Less.

Spezialist für Syndikate

Avner Werner Less wird 1916 in Berlin-Wilmersdorf geboren. Er besucht die Höhere Waldschule in Charlottenburg. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kann er 1933 nach Frankreich fliehen. Dort lernt er seine spätere Frau Vera Gonsiorowski kennen, die aus Hamburg stammt. Gemeinsam emigrieren sie 1938 nach Palästina. Ihre Familienangehörigen werden von den Nazis ermordet. Less' Vater wird 1943 mit einem der letzten Berliner Züge nach Auschwitz deportiert. Less wird in Israel Polizist. Sein Spezialgebiet ist Wirtschafts- und Bandenkriminalität. Warum ein Spezialist für organisierte Wirtschaftsverbrechen zum Verhörer von Adolf Eichmann bestimmt wird, mag unter anderem daran gelegen haben, dass man jemanden suchte, der die deutsche Sprache mindestens so gut beherrschte wie der Angeklagte. Auch gilt es in Historikerkreisen als gängige Lesart, die NS-Führungsriege als Verbrechersyndikat zu sehen.

Die Hitze in Israel machte Less' Frau, die an Polio litt, das Leben dort unmöglich. So gehen die Eheleute nach der Verurteilung Eichmanns zuerst nach Frankreich und dann in die Schweiz. Avner Werner Less stirbt am 7. Januar 1987 in Zürich. bad

Während der monatelangen Verhöre hatte Less zu schreiben begonnen - über den Angeklagten, über sich, über seine Fragen, seine Gedanken und über seinen Ekel. Die Autorin Bettina Stangneth hat die Aufzeichnungen Less' aus unzähligen Notizen und Tagebucheintragungen rekonstruiert und ihnen Gespräche mit Less' Sohn und mit Freunden zur Seite gestellt. Entstanden ist eine Verflechtung von Dokumentation und Biografie. Daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und sich in die Empfindungs- und Gedankenwelt Less' einzuarbeiten, das ist die Aufgabe der Schüler.

Und sie sind motiviert. "Wir machen Projektarbeit einfach gerne", erzählt die 15-jährige Schülerin Marlene. "Und es ist gut für die Klassengemeinschaft", meint ihr gleichaltriger Mitschüler Oskar. Als ihr Geschichtslehrer die Klasse gefragt habe, seien alle sofort begeistert gewesen, erzählen sie. Zumal sie den Nationalsozialismus auch gerade im Unterricht durchnehmen.

Dass man sich letztlich gerade dafür entschieden habe, die Rolle von Avner Werner Less genauer zu beleuchten, findet Marlene eine gute Entscheidung. Denn dem jüdischen Vernehmer kommt ein besondere Bedeutung zu: "Er war auf der einen Seite direkt von den Nationalsozialisten betroffen und er vertritt auf der anderen Seite das Gesetz und menschliche Werte, die die Nationalsozialisten mit Füßen getreten haben." Gerade die Tatsache, dass Less seinem Gegenüber stets respektvoll begegnet sei, findet Marlene so beeindruckend an ihn. Denn er habe damit auch demonstriert, dass er nicht den gleichen Fehler mache, wie die Nazis. Er sei nicht er Versuchung erlegen, Täter- und Opferrolle umzukehren.

Bei der virtuellen Auftaktveranstaltung aller vier Schulen - die anderen sind das Gymnasium Fränkische Schweiz in Ebermannstadt, die Orlando-di-Lasso-Realschule in Maisach und das Wilhelmsgymnasium in München - am 3. Mai waren auch Israels Generalkonsulin in München, Sandra Simovich, Spaenle und Eisenreich dabei. "Der Prozess gegen Adolf Eichmann mahnt uns alle, dass Frieden, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte nicht selbstverständlich sind, sondern Tag für Tag verteidigt werden müssen", befindet Eisenreich. "Es ist wichtig, sich schon in jungen Jahren mit dem NS-Unrecht und den Grundwerten unserer Demokratie auseinanderzusetzen." Derzeit arbeiten die Gautinger Schüler laut Weikmann in Projektgruppen, knöpfen sich unterschiedliche Textpassagen und Themenbereiche vor. Die Ergebnisse wollen sie am 10. November in Form eines Podcasts in großer Runde präsentieren.

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SZ vom 11.06.2021
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