Süddeutsche Zeitung

Erinnerung:Wie ein KZ-Überlebender Teil der Geschichte Gautings wurde

Eigentlich wollte er nach Amerika auswandern, doch sein Arzt riet ihm ab. Rafael Katz wurde Taxifahrer. Seine Tochter Estera Silber erzählt aus dem Familienleben.

Von Blanche Mamer

"Er gehört zur Geschichte des Ortes. Viele Gautinger kannten ihn, erinnern sich immer noch", sagt Sabine Zaplin über Rafael Katz, Holocaust-Überlebender, der sich nach seiner Tuberkulose-Genesung im Lungenkrankenhaus in Gauting im Ort als Taxiunternehmer niederließ und bis zu seinem Tod mit seiner Familie hier gelebt hat. Auch seine Tochter Estera Silber, 1950 geboren, kennen viele der Alteingesessenen, wuchs sie doch mit ihnen auf, gemeinsam besuchten sie Kindergarten und Schule. Und auch heute ist sie noch oft in Gauting, im Haus ihrer Kindheit in der Gartenpromenade. Im Rahmen der Reihe "Hoffnung trotz allem" war sie beim "Tee bei Sabine" im Bosco.

Vor etwa 80 Zuhörern berichtete sie von ihren Erlebnissen, den Eigenheiten des Vaters und dem Spagat zwischen der jüdischen und der deutschen Kultur. Ihre Eltern, beide KZ-Überlebende, hatten sich im Hospital für Displaced Persons in Gauting kennengelernt. Eigentlich hatte der Vater nach Amerika auswandern wollen, sein Antrag wurde wegen der Lungenkrankheit, die zwar auskuriert war, abgelehnt. "Da war er so enttäuscht und ratlos", erzählt Silber. "Sein behandelnder Arzt, Dr. Hans Haßler, der seit 1942 im Lazarett in Gauting tätig war, riet ihm: Bleib in Gauting, die Luft hier ist gut für deine Lunge." Katz arbeitete im Krankenhaus, als Portier und Fahrer. Zunächst lebte die Familie mit drei Kindern in einem Zimmer im Schlösschen in der Ammerseestraße. "Katz, du musst den Führerschein machen, damit du als Taxifahrer arbeiten kannst, sagte ihm der Gautinger Dorfpolizist", erzählte Silber. Und das hat dann wohl geklappt. Mit einem geschenkten siebensitzigen Benz startete Katz sein eigenes Taxiunternehmen am Bahnhof. Die Entschädigung für die Zeit im KZ habe die Anzahlung auf ein Grundstück mit kleinem Häuschen in der Gartenpromenade ermöglicht. Die Familie hielt Ponys und Ziegen, was die Nachbarn manchmal störte. Doch man habe sich immer arrangiert.

Die kleine Estera und ihre Geschwister gingen in den katholischen Kindergarten in der Reismühlerstraße, immer zu Fuß, auch im strengsten Winter. "Mein Vater wollte, dass wir eine gute Erziehung bekommen. Er fand, die Nonnen machten das ganz gut. Wir lernten beten, aber wir haben nur dann mitgebetet, wenn wir wollten. Wir sollten offen aufwachsen, wie die anderen Kinder." Weihnachten wurde gefeiert, auch Ostern. "Wir wollten das, auch wegen der Geschenke. Da war unser Vater großzügig. Alles was er in seiner Kindheit entbehrt hat, hat er uns gegeben."

Daheim allerdings hielt der Sohn eines konservativen Rabbiners streng auf die Einhaltung der jüdischen Regeln. "Jeden Freitag, vor Beginn der Sabbat-Ruhe ging er zum jüdischen Friedhof und gedachte der Toten. Dann wurde ganz konservativ Sabbat gefeiert, Mutter sprach den Segensspruch, Vater zündete die Kerzen an." An großen Festtagen wie Rosch Haschana, dem Neujahrsfest, und Jom Kippur fuhr die Familie nach München, um in die Synagoge in der Reichenbachstraße zu gehen. Übernachtet wurde im Hotel Reichenbach, was die Kinder ganz besonders liebten. Das kulturelle Miteinander der Religionen war eine Herausforderung: "Wir waren im katholischen Religionsunterricht. Schwierig wurde es in der Pubertät, als nichtjüdische Freunde auftauchten.

"Ich bin immer so gern mit dem Rad nach Unterbrunn zum Bauern Geiger gefahren, um Eier zu holen. Bei der Geiger-Oma gab es Kuchen, und sie erzählte so schöne Geschichten", berichtet Silber. Heute unvorstellbar, doch es gab bis in die 1980er Jahre Ziegen in der Villenkolonie. Zum großen Amüsement der Zuhörer berichtet der Unterbrunner Hermann Geiger: Katz habe seine brünstigen Geißen ins Taxi verfrachtet, um sie vom Ziegenbock der Geigers decken zu lassen. Danach habe das Fahrzeug nicht nur nach Knoblauch und Zigarrenrauch gestunken, sondern für ein paar Tage auch nach Ziege.

Ihr Vater habe die Qualen und das Leid, die er erdulden musste, nie verschwiegen. Er habe Albträume gehabt, sei schreiend aufgewacht. Dass er darüber reden konnte, habe ihm geholfen. "Seine Offenheit war auch gut für uns Kinder. Er zeigte uns in Dachau die Pritschen in Baracke 25 und in Buchenwald ein Arztzimmer, wo die Schwerkranken durch ein Loch in der Wand durch einen Kopfschuss getötet wurden", erzählt Silber. Er habe aber auch von denen berichtet, die gut zu ihm waren, zum Beispiel von einem SS-Wachmann, der ihm Brot zugeworfen habe. Susanne Forster von den Puppet Players wies auf die Großzügigkeit von Katz hin. Als Haßlers Sohn Michael nach dem Krieg schwer erkrankte und Medikamente rar waren, habe Katz seine Carepakete, die er als ehemaliger KZ-Häftling regelmäßig von den amerikanischen Soldaten bekam, mit Haßler geteilt. So konnte der Kleine mit gutem Milchpulver aufgepäppelt werden - er lebt immer noch in Gauting.

Mit 14 Jahren wurde Estera ins Internat nach Israel geschickt. Doch 1967, als der Krieg ausbrach, musste sie zurück. Sie hat dann eine Ausbildung zur Bewegungstherapeutin gemacht, hat einen Mann jüdischen Glaubens geheiratet, was dem Vater gefallen hat. Die Schwester sei später nach Israel ausgewandert, habe dort geheiratet. Der Bruder, der immer bayrisch sprach, habe eine christliche Frau geheiratet.

Estera Silber lebt und arbeitet in München, ihre beiden Töchter sind längst erwachsen. Sie kümmert sich immer noch um Haus und Garten in Gauting und pflegt die Kontakte zur Nachbarschaft. Und freut sich, dass so viele an ihrer Geschichte Anteil nehmen.

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Quelle:
SZ vom 18.05.2018
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