Enklave in Feldafing:Olympisches Geisterdorf

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Geheimsache Feldafing: Ein olympisches Dorf gab es 1972 nicht nur in München, sondern offenbar auch in der Nähe von Starnberg. In der ehemaligen Fernmeldeschule in Feldafing. Nur kann sich dort niemand daran erinnern. Waren hier also wirklich Sportler? Eine Spurensuche.

Martin Schneider

Stifte, Schlüssel, Socken. Dinge verschwinden. "Das Haus verliert nichts", ist zwar eine alte Weisheit, die wie so viele alte Weisheiten irgendwie stimmt, aber im Moment des Verlusts wenig weiterhilft. Manchmal hat sich die Socke in der Waschmaschine einfach entmaterialisiert.

Bei Socken ist das normal. Unheimlich wird es, wenn größere Sachen verschwinden. Zum Beispiel ein ganzes Dorf.

Ende August 2012, die Olympischen Sommerspiele 1972 in München jähren sich zum 40. Mal. Vieles, was damals passierte, wird einfach wieder erzählt. Borsow sprintet, Wolfermann wirft, Meyfarth floppt. Aber ab und an tauchen zu diesen Jubiläen auch neue Geschichten auf, Geschichten, die man dem Vergessen entreißen muss. Die Geschichte vom zweiten olympischen Dorf ist so eine.

In der Fernmeldeschule in Feldafing sollen 1972 Sportler untergebracht gewesen sein. Es gibt detaillierte Augenzeugenberichte. Nur in Feldafing weiß davon offenbar keiner mehr etwas. "Davon ist mir nichts bekannt", sagt ein Chronist an der Fernmeldeschule. "Allerdings sind unsere Chroniken handschriftliche Bücher, das dauert, bis man die durchgeschaut hat."

Claus-Walter Herbertz vom Arbeitskreis Feldafinger Chronik sagt: "Ich glaube nicht, das es so was hier gab." Bei der Gemeinde hat man auch noch nie von einem solchen Dorf gehört. Martina Gräfe arbeitet im Gemeindearchiv. Sie findet dort zum Thema - nichts. "In der Schule war auch nicht so viel Raum. Ich weiß nicht, ob so viele Sportler dort Platz gehabt hätten."

Die Spur führt zu Dieter Hummel

Die Fernmeldeschule als solche existiert, das zumindest ist sicher. Sie liegt im Süden Feldafings, westlich der Tutzinger Landstraße und des Golfclubs, ein kastenförmiges Gebäude neben dem nächsten. Auf dem Gelände steht ein Haus, Villa genannt, in dem Thomas Mann am "Zauberberg" gearbeitet hat.

Heute findet sich auf dem Gelände nicht mehr die Fernmeldeschule, sondern die Fachschule der Bundeswehr für Informationstechnologie, weil Fernmelder nach Morsezeichen klingt und Informationstechnologie nach Internet. Im Süden des Geländes gibt es einen Sportplatz mit Laufbahn und einen Tennisplatz. Aber waren hier 1972 Sportler?

Vom Gemeindeamt führt die Spur zu Dieter Hummel. Er war 1972 Erster Staatsanwalt Münchens und Stadionsprecher im Olympiastadion. Von einem zweiten Dorf weiß er nichts, aber er kennt jemanden, der jemanden kennt.

Dieser jemand heißt Wilhelm Bruns, er war damals ein jungen Soldat und in Feldafing stationiert. "Ja, klar gab es ein Dorf, das war ein Riesenereignis damals", sagt Bruns. Kein offizielles olympisches Dorf zwar, das gab es nur in München. Aber ein Militärdorf, in dem Sportsoldaten wohnten, die sich für die Olympischen Spiele nicht qualifiziert hatten. Als Auszeichnung für militärische Verdienste oder sportliche Erfolge quartierten sie die Militärverbände der Welt in Feldafing ein. Über zwei mal zwei Wochen wohnten je 800 Sportler aus 33 Nationen, hauptsächlich aus arabischen und aus NATO-Staaten, im CISM-Dorf. Das ist die Abkürzung für Conseil International du Sport Militaire, dem internationalen Militärsportverband.

Bruns erinnert sich gut an das Dorfleben: "Jeden Morgen wurde mit großem Trara die Flaggen gehisst, am See gab es eine Badestelle." Sport getrieben wurde wenig. Die Soldaten, die Eintrittskarten für die Wettkämpfe hatten, fuhren mit Bussen nach München. Der Rest blieb am See, ging spazieren oder baden. In den Zimmern war tatsächlich nicht viel Platz, allerdings ist man als Soldat an ein Leben auf engem Raum gewöhnt. Einmal war der Goldmedaillen-Gewinner über 50 Kilometer Gehen, Gerd Kannenberg, da. Er wurde zum Hauptfeldwebel befördert. "Offiziell aber nicht wegen des Olympiasiegs", sagt Bruns und schmunzelt.

Die Idylle am See wurde durch das Attentat palästinensischer Terroristen am 5. September zerstört. Der Bürgermeister des Dorfes, Willi Rieke, kondolierte den Hinterbliebenen der getöteten israelischen Sportler - für die arabischen Soldaten in Feldafing ein Affront. Sie verließen das Dorf.

Auch Oberstleutnant Jürgen Hauser erinnert sich an die olympische Enklave. Seine Frau, die bei der Bank arbeitete, habe vor der Kaserne extra eine Wechselstube eingerichtet, damit die Sportler ihr Geld in D-Mark tauschen konnten. "Da sieht man mal, wie solche Dinge verloren gehen", sagt Hauser.

Tatsächlich findet sich ein einziger schriftlicher Hinweis: Wer im Internet nach "CISM-Dorf" sucht, findet eine Anzeige beim Online-Auktionshaus Ebay. Dort wird ein Briefumschlag versteigert, versehen mit einem Sonderstempel der deutschen Post. Trotz verblassender Tinte steht dort um das Wappen der Militärsportvereinigung klar und deutlich "Feldafing, CISM-Dorf, 21.8.1972, XX. Olympische Spiele-München". Die Geschichte verliert fast nichts.

© SZ vom 05.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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