Diesmal also mitten im Winter. Das Bühnenbild sieht aus, als wäre Ernst Ludwig Kirchners riesige „Berglandschaft“ aus dem Buchheim-Museum im Schnee versunken. Direkt davor steht eine veritable Schneekanone, dicke weiße Flocken bedecken den Boden. Und die Schauspieler, die bei dieser Probe ein merkwürdiges Unterwäschekostüm tragen, frieren, sobald sie aufhören, sich zu bewegen.
Das längst legendäre Elle-Kollektiv war bislang bekannt für sommerliche Theaterprojekte unter freiem Himmel oder gleich direkt im und auf dem Ammersee. Für „Discofox im Dachsbau“ ist die Truppe eine Kooperation mit der Tänzerin Lara Paschke und dem Musiker Jakob Lakner eingegangen und bespielt erstmals in der ganz normalen Theatersaison einen ganz normalen Raum mit vier Wänden. Aber nicht nur deshalb darf man davon ausgehen, dass es bei den Aufführungen an den kommenden drei Wochenenden heiß hergehen wird.
Das Elle-Kollektiv, bestehend aus den beiden Schauspielern Elisabeth-Marie Leistikow und Luis Lüps sowie dem Bühnenbildner Louis Panizza, wurde 2017 in einer ehemaligen Gärtnerei in Schondorf gegründet und macht mit „immersivem Dorftheater“ Furore. 2021 wurden die Künstler mit dem Tassilo-Preis der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet. Sie verstehen sich als basisdemokratisch geführtes Kollektiv, das die Einflüsse der Darstellenden und Bildenden Kunst gleichwertig in seinen Projekten zum Ausdruck bringen will. In den meist auf wundersame Weise ausufernden Inszenierungen des Elle-Kollektivs sind Agierende und Zuschauende prozesshaft verwoben und beeinflussen sich gegenseitig. Skurriles, Absurdes, Irritierendes und Erschreckendes liegen oftmals sehr nahe beieinander.
Diesmal aber hatte man eigentlich etwas ganz Kleines mit wenig Aufwand geplant. Eine szenische Lesung vielleicht. Es war Louis Panizza, der Franz Kafkas unvollendeten Text „Der Bau“ ins Spiel brachte. Die Erzählung handelt von den vergeblichen Bemühungen eines nicht näher definierten Individuums, sich in einem perfekten Erdbau vor Feinden in Sicherheit zu bringen. Der Bau wird zur Falle und zum Beweis des eigenen Scheiterns. Selbst sicher geglaubte Systeme sind nicht mehr vertrauenswürdig. Der Protagonist manövriert sich in eine Angstspirale, an deren Ende der Tod als einziger Ausweg erscheint. Der letzte Satz in Kafkas Text lautet jedoch: „Aber alles blieb unverändert.“


Aus verschiedenen Gründen konnte das Projekt nicht mehr vor dem Ende des Kafka-Jahrs 2024 zur Aufführung gebracht werden, gleichzeitig aber wurde es immer größer, aufwendiger und ja, kafkaesker. Nun aber erscheint es beinahe wie ein Gleichnis für das Jahr 2025, dessen erste Wochen sich wie die immer rasanter werdende Einfahrt in eine Geisterbahn anfühlen.
„Discofox im Dachsbau“ gestattet durch Kafkas in gewisser Weise zeitlosen Text einen Blick auf unsere Gegenwart und auf die Frage, wie man als Individuum in einem immer hitziger und radikaler werdenden gesellschaftspolitischen Stimmungsgefüge aus Misstrauen, Hass, Angst bis hin zu Paranoia und Gewaltausbrüchen bestehen kann, ohne selbst in Panik zu geraten und den Bezug zur Realität zu verlieren.

Die für „Discofox im Dachsbau“ stark gekürzte Textfassung stammt von Elisabeth-Marie Leistikow, aber das Elle-Kollektiv und das Duo Paschke/Lakner haben das Stück zusammen entwickelt. Das gemeinsame Improvisieren der drei Disziplinen Schauspiel, Tanz und Musik ist essenzieller Bestandteil der Inszenierung. Zuletzt kam auch noch die ebenfalls mit dem Tassilo-Preis ausgezeichnete Videokünstlerin Vanessa Hafenbrädl aus Dießen mit an Bord.
Der Gedankenstrudel, in dem der Protagonist von einer logisch erscheinenden Schlussfolgerung zur nächsten springt, liefert die Folie für manisch kontrollierte Bewegungsabfolgen und eine musikalisch übersetzte, beklemmende Atmosphäre. Gemeinsam mit dem Ensemble hat die Kostümbildnerin Victoria Dietrich diese Beklemmung auch in eine Abfolge von verschiedenen Kostümen übersetzt. Nicht zuletzt aber dürften es diese seltsamen Bekleidungen sein, die für durchaus heitere Momente sorgen werden. Und, so viel sei verraten, auch diesmal werden die Zuschauer nicht ganz ungeschoren davonkommen. Bis zuletzt wird es spannend bleiben, ob alles in Resignation und Tod versinkt oder ob es am Ende doch eine gemeinsame Discofox-Party im Dachsbau gibt. Vielleicht aber bleibt auch hier alles unverändert.
Das Elle-Kollektiv ist am Ammersee beheimatet, die Tänzerin Lara Paschke und ihr Partner Jakob Lakner leben in Schlehdorf. Deshalb wird „Discofox im Dachsbau“ an verschiedenen Orten zur Aufführung kommen. Die Premiere findet am 25. Januar um 20 Uhr in der Freien Kunstanstalt in Dießen statt, am darauffolgenden Wochenende wird im Klostergut Schlehdorf gespielt und zuletzt im Stadttheater Landsberg.
Alle Termine und Karten unter: www.ellekollektiv.de