Krieg in Nahost und der Ukraine, Artenschwund und alarmierendes Fortschreiten der Klimaerwärmung, labile Finanzmärkte und die Gefahr wirtschaftlichen Niedergangs. Mit diesen Ängsten wird Politik gemacht. Gleichzeitig sind autokratische Herrscher weltweit auf dem Vormarsch und auch die deutschen Wähler tendieren in Richtung Nationalismus und Ausgrenzung. Die Frage, wie sich eine freiheitliche, solidarische Gesellschaft gegen antidemokratische Tendenzen verteidigen kann, wird auf vielen politischen Ebenen diskutiert.
Was aber hilft dem Individuum, den permanenten Krisenzustand emotional zu bewältigen und welche Möglichkeiten hat eine Kommune wie Dießen, der fortschreitenden Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken? „Widerstandskräfte des Einzelnen und der Gemeinschaft in globalen Krisenzeiten“ war ein Diskussionsabend überschrieben, zu dem kürzlich die psychosomatische Klinik und die Kulturwerkstatt Dießen eingeladen haben. An die 60 Teilnehmer fanden sich zum von der Unternehmensberaterin Sylvia Wörner höchst professionell moderierten Gespräch ein. Im Anschluss an einen Impulsvortrag von Klinikchef Bert te Wildt erarbeiten sie in der Aula der Carl-Orff-Schule Vorschläge zur Stärkung sozialer Resilienz - also der Reaktionsfähigkeit auf gesellschaftliche Herausforderungen.
Als Aufgabe der politischen Gemeinde wurde in den Ergebnissen immer wieder Schaffen und Erhalt von Begegnungsorten hervorgehoben. Die zentrale psychologische Botschaft des Abends aber war, dass sich der Einzelne über die eigene Blase hinaus für Gemeinschaften öffnen muss, um Verständnis für Andersdenkende zu entwickeln. So kann ein Gefühl für Zusammengehörigkeit, Solidarität und Wertschätzung für demokratische Strukturen entstehen. Gleichzeitig profitiert die krisengeschüttelte Psyche des Menschen davon, sich einer Gruppe anzuschließen. Nicht nur, dass man sich dort gegenseitig unterstützen kann, um nicht der Verzweiflung zu erliegen. Soziales Engagement habe sich als sehr wirksames Antidepressivum erwiesen, sagte Bert te Wildt.
In seinem Referat zum Auftakt erläuterte der Psychiatrie-Professor, dass man unter Resilienz generell Widerstands- oder Anpassungsfähigkeit versteht. Das sei kein Merkmal einer Person oder Gemeinschaft, sondern ein Prozess, der vom Auslöser über die Reaktion oder Anpassung schließlich zu Konsequenzen in Form von Handlungen oder Veränderungen führe. Besonders resilient seien Gruppen, in denen kollektives Empfinden und starke gemeinsame Werte über der individuellen Selbstverwirklichung stehen, erklärte te Wildt. Entscheidende Erfolgsfaktoren seien neben Reaktionsgeschwindigkeit die Robustheit einer Gemeinschaft und eine Vielfalt an Ressourcen, zu denen etwa Neugier und Einfallsreichtum zählen. Weiter sei Redundanz wichtig, sodass bei einem Ausfall einzelner Quellen Alternativen zur Verfügung stehen.
„Wir sind kein gallisches Dorf hier“
Seine Wahlheimat Dießen sei in dieser Hinsicht relativ gut aufgestellt, findet te Wildt. Als Beispiele vorhandener örtlicher Ressourcen nannte er Kulturstätten wie „ein Liebhaber-Kino mit zwei Sälen“, die weitgehend intakte Naturlandschaft und ein lebendiges Vereinswesen. Für den inzwischen 55-Jährigen war bereits kurz nach dem Zuzug vor sieben Jahren klar: „Hier will ich nicht mehr weg.“ Allerdings seien gerade auch in Dießen während der Pandemie und danach tiefe Gräben zwischen gesellschaftlichen Gruppen aufgerissen. Und nirgendwo sei man vor nationalen und globalen Verwerfungen gefeit: „Wir sind kein gallisches Dorf hier.“
Ergänzend zu te Wildts Vortrag nahmen auf dem Podium weitere Dießener zum Thema Stellung. Andreas Huber, Vorstand der d’Ammertaler, musste beobachten, dass in der Covid-Zeit auch einige Trachtenvereine untergegangen seien - „aber ein einfallsreicher, stabiler, gesunder Verein steckt das weg.“ Heike Gerl, Leiterin der Volkshochschule Ammersee-West, berichtete, dass deren Teilnehmerzahlen noch nicht wieder Vor-Corona-Niveau erreicht hätten. Sie sehe die Aufgabe ihrer Institution darin, „zur Verständigung und zum Aufbrechen der Blasen“ beizutragen. Der Rundfunkjournalist Thies Marsen verwies darauf, dass vor allem „rechte Medien die Spaltung und Destabilisierung der Gesellschaft betreiben“. Er hielt es für bedenklich, dass sein Berufsfeld zum „positiven, sogenannten konstruktiven Journalismus“ tendiert, der den Krisen möglichst viele gute Nachrichten entgegensetzen soll.
Räume für persönliche Begegnungen, individuelle Offenheit und Neugierde schaffen
Rektor und Hausherr Michael Kramer stellte fest, dass sich an der Carl-Orff-Schule die Standpunkte in Diskussionen zunehmend verhärten. Für die Jugend saß je ein Vertreter der drei Dießener Schulen auf dem Podium: Sie lobten Anti-Rassismus-Projekte und Debattierclubs, wo man lerne, ein Thema von beiden Seiten zu beleuchten, anstatt sich auf die eigene Meinung zu versteifen. Und das Publikum erfuhr, dass die Mädchenrealschule ein zweiwöchiges Praktikum namens „Compassion“ anbietet, wo Schülerinnen Erfahrungen in sozialem Engagement sammeln können - und eventuell dabei auch persönlich Erfüllung finden.
Im dritten Teil der Veranstaltung waren alle Anwesenden aufgerufen, in sechs „Murmelgruppen“ Ideen darüber auszutauschen, was Einzelne und Gemeinschaften zur Umsetzung von gesellschaftlicher Resilienz beitragen können. Fast alle Beiträge stimmten der Mitveranstalterin Gabriele Übler von der Kulturwerkstatt zu: In den brachliegenden Huber-Häusern schlummere ein immenses Potenzial als Treffpunkt, Veranstaltungs- und Arbeitsort, wo sich auseinanderdriftende gesellschaftliche Gruppen zusammenführen ließen. Ebenso wichtig wie Räume für persönliche Begegnungen sei es, die individuelle Offenheit und Neugierde zu fördern, fasste Gerl die Erkenntnisse ihrer Murmelgruppe zusammen. An anderen Tischen kam man zum Ergebnis, das manchmal auch ein langer Atem gefordert sei: „Es gibt nicht immer schnelle Lösungen“. Und das ständige Reden über Krisen beinhalte auch die Gefahr von Rückzug und Resignation: So gäbe es etwa Schüler, die sich Diskussionsrunden in den Klassen verweigern, um Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Auch der Psychiater warnte vor dem „typisch deutschen“ Hang, Bedrohungen ständig zu thematisieren: „Man sollte nicht permanent über die Krisen reden - das könnte zur Handlungsunfähigkeit und in die psychische Erkrankung führen.“ Te Wildt appellierte zudem an den Einzelnen, „mehr Vielfalt in meinen Informationsquellen zuzulassen“. Man sollte sich selbst hinterfragen, ob man etwa zu normativ wirke und zu stark polarisiere - was den Dialog mit Andersdenkenden abwürgt. Einen praktischen Rat hatte auch Andreas Huber parat: „Geht in eine Gemeinschaft, das tut Euch gut“, empfahl der Vorsitzende des Trachtenvereins. In der Gruppe lerne man nicht nur andere Sichtweisen kennen, im Team kämen auch die Stärken des Einzelnen besser zur Geltung.