Dass dieser Künstler nicht gern im Rampenlicht steht, ist ihm an jeder Faser seines Körpers anzusehen. Mit stark zitternder Hand hält der hochgewachsene Mann mit der schlohweißen Mähne die losen Blätter, auf denen er seine kurzen Verse festgehalten hat. Um sie vorzutragen, muss er im Schummerlicht der Freien Kunstanstalt immer wieder unter den Schirm einer Stehlampe tauchen. Für Egon Günther ist eine öffentliche Rezitation alles andere als Routine, dabei fühlt er sich offensichtlich nicht wohl in seiner Haut. Aber zum Lampenfieber besteht eigentlich kein Anlass. Auch wenn die gute Stube der Dießener Kulturinitiative zur Vernissage mit Lesung und Musik rappelvoll geworden ist – einen guten Teil des Publikums stellen Günthers Weggefährten, Freunde und Bekannte.
Der 71-Jährige aus Riederau, der sein halbes Leben auf dem Bau malocht hat, arbeitet inzwischen als Buchautor, Lyriker, Übersetzer und bildender Künstler. Weithin bekannt wurde Egon Günther mit den Büchern „Bayerische Enziane“ und „Der Watschenbaum“, die ihm bescheidenen wirtschaftlichen Erfolg und anerkennende Kritiken einbrachten. So unterschiedlich das alternative Heimatkundebuch und der autobiografisch geprägte Roman angelegt sind, spiegeln sie doch die gleiche Grundhaltung wider: Solidarität mit den Unterdrückten, Außenseitern und Aufmüpfigen. Günthers primäres Motiv ist, Mut zum Widerstand gegen autoritäre Strukturen zu vermitteln.
Seine Lyrik, die er in Kunst- und Literaturzeitschriften wie „Abwärts“ und „Herzattacke“ oder Punk-Magazinen wie „Saufen aktuell“ veröffentlicht, enthält mehr poetische als explizit politische Substanz. Ein wichtiger Einflussfaktor seien für ihn die Texte von Bob Dylan gewesen, erklärt der Autor, der seine Botschaften oft kunstvoll verpackt. „Im toten Winkel wartet das Kapital / und bangt, das es endlich zur Sprache kommt“, trägt Günther beispielsweise in Dießen vor. Nach der leisen Rezitation jeden Gedichts wirkt er stets geradezu erleichtert, wenn er das Textblatt dazu jemandem im Publikum überreichen kann. Er hat diese Geschenke mit einem bunten Stempelabdruck einer seiner ornamentalen Fast-Figuren geschmückt, die wie ein fremder Code oder Maja-Schriftzeichen anmuten.
Zur Retrospektive sind in der vormaligen Schreinerei eine ganze Reihe von monochromatischen Linoldrucken ausgestellt, auf denen fünf bis acht dieser Symbole gruppiert sind. Deren Strukturen sind auch in Günthers farbenreichen, aber keineswegs knallbunten Ölgemälden wiederzufinden, die in verschiedensten Formaten an den Wänden hängen. Sie tragen Titel wie „Destroyed Work“ oder „Erlebnisse eines Römers in Wales“, wie der Künstler nur auf Nachfrage verrät. Auf rätselhafte Weise gelingt es ihm, den Eindruck zu erwecken, dass in seinen Bildern Flächen und Farben, Figuratives und Abstraktes miteinander in einer Geheimsprache kommunizieren. Weiter sind in der 36 Jahre des Schaffens umfassenden Werkschau auch einige unverkäufliche Skulpturen zu sehen, die Günther aus alltäglichen Materialien wie Beton und Stahl montiert hat.

Man darf annehmen, dass es seinen Freund Thies Marsen viel Überredungskunst gekostet hat, den zurückhaltenden 71-Jährigen zur Ausstellungseröffnung für eine Mini-Lesung zu gewinnen. Gemeinsam haben sie eine Biografie über die in Riederau aufgewachsene Revolutionärin Hilde Kramer und Radio-Features entwickelt. Über die „Roten Frauen von Riederau“ produzierten sie eine szenische Lesung, die unter anderem 2012 mit den inzwischen gestorbenen Schauspielern Jörg Hube und Achim Höppner in Dießen aufgeführt wurde. Zuletzt entstand 2022 das Album „Das letzte Streichholz“, für das der Rundfunkjournalist und Freizeit-Musiker Marsen Gedichte von Günther in Songs überführte.
Auch zur Vernissage trägt Marsen die vertonte Lyrik als Gitarrist und Sänger mit seiner Band Kaskich unplugged vor. Begleitet wird der bekennende Alt-Punker von seinem Bruder Luz mit Gitarre und Cajon sowie Schwägerin Steffi an der Bratsche – weshalb die Combo auch als „The Marsen Family Inc.“ firmiert. In der Kunstanstalt erntet das Trio zurecht viel Beifall: Günthers Gedicht „Von allem zu viel“ etwa ist mit treibendem Beat zum markanten Rocksong gewachsen. Und am Ende stellt Kaskich eigene Lieder mit originellen Texten in Mundart vor. Zum Repertoire ihres „Anti-Heimatsounds“ zählen etwa eine bairische Version des Billy-Bragg-Klassikers „A New England“ oder ein selbstironisches Anarcho-Kampflied: „Wenn wir zwoa mal oid san / na zünd’ ma SUVs an / I tat scho’ gern an Molli schmeissn / aber denk, i tat ma’s Kreuz verreißen“.
„Im Dienste der Revolte“
Günther würde wohl andere Worte wählen, aber auch er ist stets aufseiten der Revoluzzer und Unangepassten zu finden. Mit dem Magazin „Feuerstuhl“ hat er „im Dienste der Revolte“ eine entschieden antiautoritäre Zeitschrift herausgegeben; er hat radikal nonkonformistische Dichter und Essayisten wie Dale Pendell oder Charles Plymell aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen. In seinem ersten richtigen Buch „Bayerische Enziane“ würdigte Günther 2005 Außenseiter, Künstler, Wilderer und Antifaschisten im Freistaat. Dabei setzt er so unterschiedlichen Gruppen wie den Wessobrunner Stuckateuren des 17. und 18. Jahrhunderts oder den 1919 in Starnberg ermordeten 30 Räterevolutionären literarische Denkmäler. Und er schildert detailliert, wie sein Heimatort Riederau schon vor mehr als 100 Jahren zum Refugium von Verfolgten und Antikolonialisten wie etwa dem irischen Nationalhelden Roger Casement wurde. Sprachgewandt spürt der Autor überraschende Verbindungen und Zusammenhänge auf; Günther spart dabei auch nicht Kritik am „autoritären Sozialismus“ aus.
Mit „Watschenbaum. Roman einer Kindheit“ hat Günther 2012 ein viel beachtetes literarisches Werk verfasst, das stark autobiografische Züge trägt. Ohne Pathos schildert er eine triste Kindheit im proletarisch geprägten Milieu Obersendlings. Zwischen Trümmern, Tandlern und Tagelöhnern sind die Kinder körperlichen und seelischen Misshandlungen ausgesetzt, sie sollen zu willfährigen Untertanen erzogen werden. Beate Tröger, Literaturkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zeigte sich „beeindruckt über die verzweifelt wütende Verlorenheit dieses sich selbst überlassenen Heranwachsenden aus einer bildungsfernen Schicht“. Sie bescheinigte dem Roman „realistische und gekonnte Schilderungen von Orten, geschichtlichen Details“. Im Wechsel zwischen Erzählton und kurzen Assoziationsströmen in entfesselter Sprache entfalte das Buch große Überzeugungskraft.
Günthers halbwüchsiger Protagonist Cornelius entflieht der kleinbürgerlichen Enge und schlüpft im linken Milieu der Münchener Studentenbewegung unter; lernt dort Led Zeppelin, Ten Years After und Haschisch kennen. Aber die Gegenkultur der 1968er hält für Cornelius auch Enttäuschungen bereit: Bei manchen Mitstreitern verkommt die Rebellion zur antibürgerlichen Attitüde und der politischen Bewegung mangelt es an Solidarität, schließlich zerfällt sie in stalinistische Sekten.

Im persönlichen Gespräch wird deutlich, wie viel von seiner eigenen Vita Günther in „Watschenbaum“ gepackt hat. Auch er hat die Gewalt selbst ernannter Autoritäten in Schule und Familienumfeld am eigenen Leib erfahren – bis er ausbrach. „Der Tod von Benno Ohnesorg hat mich völlig aus der Bahn geschmissen, obwohl ich erst 14 war“, sagt Günther rückblickend: Im Juni 1967 hatte bei einer Demonstration in Berlin gegen den iranischen Schah ein Polizist einen pazifistischen Studenten gezielt erschossen. Anstatt den Mord aufzuklären, vertuschten Polizei und Behörden den Fall als „Notwehr“; der Täter blieb aufgrund von Falschaussagen und verschwundener Beweismittel unbestraft.

Für Günther war dies Anlass, die Schule abzubrechen und sich der 1968er-Bewegung anzuschließen, wie viele junge Deutsche fühlte er sich „dem Aufbruch und der Revolte verpflichtet“. Er gehörte zur linken Szene im damaligen „Café Europa“ an der Leopoldstraße, erinnert sich an den „Magic Bus“ und den „Hippie-Trail“. Selbst trampte er durch Europa und Peru. Und anstatt ein Studium oder eine Karriere im Establishment anzustreben, arbeitete Günther jahrzehntelang als Kontorist, Drucker, Maurer und Pflasterer: „Ich war 30 Jahre lang auf dem Bau.“
Erst mit dem Umzug nach Riederau 1987 begann er nebenher zu malen und zu schreiben. Allmählich habe er es dort „trotz Lohnarbeit geschafft, sich künstlerisch selbst zu verwirklichen“. Aber es bleibe „ein stetes Ringen, die Sache ist nicht ausgestanden.“ Noch heute lebt er mit seiner Frau im selben Haus, das auch eine proletarische Vergangenheit vorweisen kann: Ein italienischer Eisenbahner habe es einst gebaut, erzählt Günther.