Jüdisches Leben im Fünfseenland:Die Klischees leid

Noah Cohen ist ausgewandert - von Israel nach Deutschland, wo er sich durchgeschlagen hat und nun im Hinterland des Ammersees lebt. In seinen Porträts erzählt der Fotograf vom jüdischen Leben in Deutschland.

Von Armin Greune, Dießen

Die erste Hälfte im urbanen Israel, die zweite im Hinterland des Ammersees: Der Fotograf Noah Cohen hat sein Leben zwischen Tel Aviv und Dettenschwang aufgeteilt, bleibt aber in beiden Welten daheim. Das Jubiläum "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" ist für ihn Anlass, Menschen zu porträtieren, die in der Bundesrepublik leben und wie er Juden sind. Mitentscheidendes Motiv für ihn war dazu ein 2019 erschienenes Heft der Reihe "Spiegel Geschichte", dessen Titelblatt unter der Überschrift "Jüdisches Leben in Deutschland - Die unbekannte Welt nebenan" zwei traditionell gekleidete Ostjuden mit Rauschebärten aus den 1920er-Jahren zeigte.

Cohen ist dieses Klischee leid: In seiner Fotoserie "Bis bald, Isaak!", die gerade in Herrsching zu sehen ist, führt er Juden nicht als exotische Gruppe von Außenseitern vor. Er zeigt Frauen und Männer; Künstler, Ärzte, Journalisten und Studenten, für die ihr mosaischer Glaube mehr oder - wie bei Cohen selbst - weniger im Fokus steht. Die aber vor allem das geistige und kulturelle Leben Deutschlands mitgestalten wie zig Generationen vor ihnen. Das Jubiläumsjahr geht auf ein Dekret von Kaiser Konstantin zurück, das im Jahr 321 Juden Zugang zu allen öffentlichen Ämtern in seinem Reich ermöglichte. Das war eineinhalb Jahrtausende bevor sich der Begriff "Deutschland" etablierte.

Herrsching, Kurparkschlosschen, Ausstellung Noah Cohen

Die Schondorfer Abiturientin Leanne Hagedorn hat Noah Cohen für seine Ausstellung "Bis bald, Isaak!“ hoch zu Ross ins Bild gesetzt. Die junge Frau fühlt sich in Deutschland zu Hause – aber nirgendwo besser verstanden als in Israel.

(Foto: Georgine Treybal)

Im Jubiläumsjahr hat Noah Cohen Juden in der Bundesrepublik aufgesucht, um sie an ihren Lieblingsplätzen mit der Kamera aufzunehmen. 20 dieser beeindruckend vielschichtigen und lebendigen Porträts sind nun erstmals im Herrschinger Kurparkschlösschen zu sehen, ergänzt mit kurzen Statements der Protagonisten. Die Schondorfer Abiturientin Leanne Hagedorn etwa verortet ihre Heimat in Deutschland, sagt aber auch: "Noch nie hatte ich das Gefühl, so akzeptiert und verstanden zu werden wie in Israel." Hoch zu Pferd wirkt ihr Blick aufmerksam und selbstbewusst, fast ein bisschen unbesiegbar.

Doch es gibt auch andere Statements: "Der Antisemitismus, der Rassismus haben zugenommen, aber auch ein Bewusstsein darüber, was da geschieht", kommentiert die Schriftstellerin Lena Gorelik, die Cohen am Münchner Hauptbahnhof ins Bild setzte. Der Kölner Arzt Bruno Seinfeld wünscht sich ein Land, dass keinen Antisemitismusbeauftragte braucht. Als 19-Jähriger hörte er, wie der neue Besitzer seines Autos von einem Freund angesprochen wurde, "warum er mit dem 'Judengolf' durch die Gegend fahre".

Herrsching, Kurparkschlosschen, Ausstellung Noah Cohen

Der Arzt Bruno Seinfeld musste sich als 19-Jähriger anhören, einen "Judengolf" verkauft zu haben.

(Foto: Noah Cohen)

Noah Cohen sagt selbst, dass er noch nie mit Antisemitismus konfrontiert worden sei. Als er 1987 in den ländlichen Dießener Ortsteil zog, sei ihm in Dettenschwang nur großes, freundliches Interesse an Judentum, Israel und seiner Person entgegengebracht worden. Als Botschafter des Dorfs durfte er sich acht Jahre später fühlen: Die Ausstellung "Bei uns in der Provinz" lockte halb Dettenschwang in den Dießener Taubenturm.

Ob er nun eine Finninger Bäuerin auf dem Acker fotografiert oder Pilger an der Grabeskirche in Jerusalem: Cohen gelingt es stets, das Wesentliche der Personen in Momentaufnahmen zu erfassen. "Auch in der Landschaft suche ich mehr oder weniger den Menschen", sagt der 66-Jährige. Für Streetfotografie reichen ihm zwei leichte, unauffällige Kameras. Um Personen nicht zur Pose zu verleiten, bittet er vor einer Aufnahme nicht direkt um Erlaubnis. Dennoch geht er behutsam vor, sucht eventuell Einverständnis mit Blicken, bevor er auf den Auslöser drückt: "Hauptsache ist dabei, die Würde der Menschen zu erhalten", sagt der 66-Jährige.

Für das Projekt "Bis bald, Isaak!" hat Cohen die Szenarios natürlich vorher abgesprochen. So zeigt er Sofija Pavlenko, wie die 22-Jährige einen hohlen Spruch mit "Titten" auf den Asphalt vor dem Münchener Königsplatz schreibt. Die Studentin engagiert sich im Projekt "Catcalls of Munich" gegen verbale sexuelle Belästigungen und will so ihren Teil zum jüdischen Konzept Tikkun Olam, der "Verbesserung der Welt" beitragen.

Noah Cohen hat Deutschland erstmals auf einer sechsmonatigen Europareise nach dem Militärdienst in Israel erlebt und offenbar in guter Erinnerung behalten. Jedenfalls beschlossen er und seine Frau Katalin Fischer vor 34 Jahren mit den damals zwei und vier Jahre alten Kindern von Tel Aviv in die Nähe von München zu ziehen, wo sie aufgewachsen war. Dass es die Familie nach Dettenschwang verschlug, war Zufall: Dort konnte man einen ehemaligen Stall mieten, der zuletzt als Bildhaueratelier gedient hatte. In drei Monaten harter Arbeit mit Freunden gelang es, das Haus zumindest teilweise bewohnbar herzurichten. Inzwischen ist es längst ein stimmungsvolles Eigenheim geworden.

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Die Studentin Sofija Pavlenko protestiert auf dem Münchner Königsplatz gegen verbale sexuelle Belästigungen.

(Foto: Noah Cohen)

Über die erste Zeit in Deutschland sagt Cohen, der in Tel Aviv als Elektroingenieur gearbeitet und zuletzt an der Hochschule für Fotografie studiert hatte: "Ich habe mich durchgeschlagen." Neben Jobs als Elektriker oder auf dem Bau nahm er Aufträge für Presse-, Sport- und Tanzfotografie an. Der ästhetische Wert von Cohens Bildreportagen aus Bayern und Israel wurde jedoch bald in Ausstellungen erkannt und geschätzt. Seine von Henri Cartier-Bresson beeinflusste, künstlerische Arbeit strahlt Klarheit und Authentizität aus. Gerade die Porträts offenbaren eine Seelentiefe, die sich wohl nur in Schwarzweiß hervorheben lässt. Sie sind zwar digital und farbig aufgenommen, aber dann in Grautöne übersetzt worden: "Die Leute sind dankbar für diese Vereinfachung", findet Cohen. Die Bilder im Din-A1-Format für "Bis bald, Isaak!" hat er selbst mit dem Tintenstrahl-Plotter auf Fine-Art-Papier ausgedruckt. Sogar die Staffeleien sind eigenhändig gezimmert und lackiert.

Noch immer lehrt Noah Cohen als Dozent für Fotografie an der Münchener Journalistenakademie und reist - sofern es die Pandemie zulässt - jährlich zu seinen Schwestern, Neffen, Nichten und deren Kindern nach Israel, das sein Staat geblieben ist. Einen deutschen Pass hat er nie beantragt. "In Deutschland meckert man ja gerne, aber im Vergleich zu allen Ländern im Nahen Osten leben wir hier im Paradies", findet er. Während er seine Beredsamkeit und Gestik klar auf die jüdisch-aramäischen Wurzeln zurückführt, kann er noch immer keine typisch deutsche Eigenschaft an sich entdecken. Zwar ist Katalin Fischer als Schauspielerin, Tänzerin, Regisseurin und Autorin in der Dießener Kulturszene vernetzt und etwa im Heimatverein engagiert. Ihm jedoch ist das deutsche Vereinswesen weitgehend fremd geblieben: "Aber ich bin Mitglied der Förderer der Theatergruppe Dettenschwang - obwohl ich da nur die Hälfte verstehe", sagt Cohen lachend.

Die Ausstellung in Herrsching ist bis Samstag täglich von 15 bis 18 Uhr geöffnet. Zur Finissage singt Siso Hagen Lieder von Marlene Dietrich, Friedrich Schloffer liest Texte von Friedrich Hollaender und Katalin Fischer. Weitere Galerien haben Interesse an "Bis bald, Isaak!" angemeldet, doch coronabedingt hängen gerade noch einige Termine in der Schwebe. Vom 3. bis 12. Dezember soll die Fotoserie im Blauen Haus Dießen gezeigt werden.

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