Dafür, dass sie seit Wochen von einem Termin zum nächsten hetzt, zwischendurch in Videocalls hängt oder in Zügen sitzt, wirkt Carmen Wegge (SPD) sehr entspannt. Am großen Tisch in ihrem Wahlkreisbüro in Starnberg, das sie sich mit der Landtagsabgeordneten Christiane Feichtmeier teilt, rutscht sie nun etwas tiefer im Stuhl, um ein Bein über die Lehne hängenzulassen. Seit drei Jahren vertritt die 35-Jährige den Wahlkreis Starnberg-Landsberg am Lech nun im Bundestag, den Wahlkreis Weilheim-Garmisch betreut sie mit. „Die Arbeit macht mir unfassbar viel Spaß“, sagt sie. Auf die Frage, was genau sie so schätzte, antwortet sie: „Wenn man für etwas kämpft und es klug anstellt, kann man seine Ziele tatsächlich erreichen.“
Zu ihren größten Erfolgen und schönsten Momenten im Plenum zählt sie die Streichung des Abtreibungs-Paragrafen 219a aus dem Strafgesetzbuch sowie die Teillegalisierung von Cannabis. Sie hat auf lokaler Ebene Fördergelder für das in Bernried geplante Forum Humor akquiriert und auf Bundesebene das Wohngeld reformiert und den Mindestlohn erhöht. Das treibt die Juristin an: die Welt ein kleines bisschen besser und gerechter zu machen. Dafür arbeitet sie durchschnittlich 80 Stunden pro Woche. Sie will den Kontakt zu den Menschen in der Region nicht verlieren, im vergangenen Jahr hat sie mehr als 300 Termine im Wahlkreis wahrgenommen und sprach mit Biobauern ebenso wie mit Unternehmern und Vertretern diverser Institutionen. Seit September klingelt sie auch an den Haustüren. „Die Leute sind glücklich, wenn man auch mal zu ihnen kommt.“ Sie hatte eigentlich vorgehabt, ein Jahr lang die Menschen in der Region zu besuchen, erzählt sie. Dann zerbrach die Regierungskoalition und Neuwahlen wurden angesetzt. Jetzt muss alles im Zeitraffer passieren.
Was die Menschen im Landkreis ihr mit auf den Weg geben, was sie von der Politikerin erwarten? Eine Frau habe von kaputten Heizkörpern in der Sozialwohnung berichtet und um Hilfe gebeten. Ein Arbeitgeber habe geklagt, dass sein afghanischer Mitarbeiter keinen Termin beim zuständigen Generalkonsulat bekomme, um seine Familie nachzuholen.
Neben solch individuellen Aufträgen gehe es aber auch immer wieder ums Allgemeine: dass es kaum bezahlbare Wohnungen gibt im Landkreis oder dass das Leben grundsätzlich so teuer geworden sei. Wegge sagt, sie nehme das alles mit, die meisten Themen seien ihr ja nicht unbekannt. Und wegen der Heizung und des Familiennachzugs hake sie nach. Ganz gleich, wer sich mit welchem Anliegen an sie wendet: Jede und jeder bekomme eine Antwort. Das gehört für sie zum Selbstverständnis ihres Jobs.
Über die Landesliste ist sie 2021 in den Bundestag eingezogen, damals auf Platz 20. Diesmal steht sie auf Platz zwölf und belegt damit unter den Frauen den ersten Platz hinter der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, den drei parlamentarischen Staatssekretärinnen der Sozialdemokraten und der Landesgruppenvorsitzenden. In der eigenen Partei hat sich Wegge in den vergangenen Jahren also durchaus Anerkennung erworben. Sie ist in den Vorstand der Bayern-SPD gewählt worden, stellvertretende Vorsitzende der Landesgruppe im Bundestag und im Bundesvorstand der SPD-Frauen.
Diesmal würde Platz 20 nicht reichen. Auf der Grundlage des reformierten Wahlrechts und den gesunkenen Umfragewerten für die SPD ist derzeit von zwölf bis 14 Plätzen für die Bayern-SPD auszugehen. Es könnte also knapp werden für Carmen Wegge, die mit ihrer Familie in München wohnt. Aber es könnte klappen. Fest steht für sie: Sollte es nicht reichen, tritt sie in vier Jahren erneut an.
Carmen Wegge wurde im Ruhrpott geboren. Als sie 15 Jahre alt war, zog die Familie nach Olching im Landkreis Fürstenfeldbruck. Den Rest ihrer Jugend verbrachte sie dort. Nach dem Abitur begann sie ein Jurastudium, stand mit selbst geschriebenen Texten als Poetry Slammerin auf der Bühne, reiste durch die Welt und veranstaltete Workshops für kreatives Schreiben an Schulen. 2013 trat sie in die SPD ein, ein paar Jahre später wurde sie stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Bayern. 2018 machte sie ihr zweites juristisches Staatsexamen, 2019 heiratete sie, ein Jahr später kam ihre Tochter auf die Welt. Wegge arbeitete damals als Juristin im Inklusionsamt Oberbayern im Bereich des Sonderkündigungsschutzes für Schwerbehinderte und gleichberechtigte Teilhabe im Arbeitsleben, sie ist verbeamtet.


Dass sie die Politik zu ihrer Lebensaufgabe machen will, das war nicht geplant. Vielleicht wirkt sie deshalb so angekommen in diesem Beruf - weil sie sich nicht verbissen hat in diese Idee, sondern es einfach ausprobiert hat. Als junge Mutter freilich eine besondere Herausforderung, denn: „Vereinbarkeit gibt es in diesem Job nicht.“ Sie haben darum Regeln gemacht: In den Sitzungswochen übernimmt ihr Mann das Kind, in den Wahlkreiswochen bringt sie die Tochter zur Kita und holt sie ab. Manchmal ist nachmittags auch noch eine Stunde Kinderturnen drin, bevor es zum Abendtermin geht. Doch: Mehr als drei Abendtermine pro Woche lässt sie sich in den Wahlkreiswochen von ihren Mitarbeitern nicht geben. Sie will schließlich ein bisschen Zeit für ihren Mann, für die vierjährige Tochter oder - ganz selten - auch mal für Freunde haben. Mit Unterstützung der Familie funktioniere diese Grundstruktur ganz gut, sagt Wegge. „Ich bin immer noch glücklich verheiratet.“ Wie sie sich entspannt? Mit guten Büchern, sie liebe Fantasyromane. „Und bei einem guten Essen mit meinem Mann.“
Im Bundestag ist Wegge Mitglied im Innen- und im Rechtsausschuss, wo sie sich mit Überwachungsbefugnissen der Sicherheitsbehörden, Datenschutz und Informationsfreiheit, Kriminalität im Internet, Digitalisierung und dem Waffenrecht auseinandersetzt, beziehungsweise mit der Gleichstellung von Frauen und der Regulierung von sozialen Plattformen. Als Mitglied in der Arbeitsgruppe Strategien gegen Rechtsextremismus hat sie sich zudem intensiv mit der Prüfung der Verfassungskonformität der AfD beschäftigt - und fordert ein Parteiverbot. Als ihre Stärken nennt Wegge ihren Mut, außerdem könne sie gut reden und Spaß haben.
Sie bekam Hassbotschaften und Morddrohungen
Ihr ist es ein Anliegen, die Beweggründe für ihre Entscheidungen offen darzulegen. Darum erläutert sie diese nicht nur im Plenum, sondern auch in den sozialen Medien. „Politik muss man kommunizieren und erklären.“ Auf TikTok ist sie besonders erfolgreich und gehört mit mehr als 42 000 Likes zu den Top 5 ihrer Fraktion. Doch klar ist auch: Nicht immer und überall kommen ihre Ideen gut an. Als sie sich während der Pandemie im Bundestag für eine verpflichtende Covid-19-Schutzimpfung ausspricht, erhält sie Hassbotschaften und Morddrohungen.
Carmen Wegge sagt, sie würde gerne zu Ende bringen, was sie in Berlin angefangen hat. Die Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen, das AfD-Verbotsverfahren, eine Familienrechtsreform oder auch eine Paritätsregelung im Bundestag. Bürgermeister, Firmenchefs, Verbandsvorsitzende: In den vergangenen Jahren habe sie viel Zeit investiert, ihr Netzwerk auszubauen. Sie habe sowohl im Wahlkreis als auch in Berlin Kontakte geknüpft, das Pflichtprogramm eben. Jetzt wäre sie bereit für die Kür.