Süddeutsche Zeitung

Klassik:Perfekt, aber nicht vollkommen

Das Kuss Quartett brilliert im Gautinger Bosco, reißt das Publikum aber nicht mit. Was fehlt den Streichern, die mit dem Blockflötisten Maurice Steger auftraten?

Von Reinhard Palmer, Gauting

Schon kurz nach der Gründung 1991 konnte sich das Kuss Quartett einen festen Platz an der Spitze der Streichquartette erspielen. In der heutigen Besetzung seit 2008 unterwegs, ist es zweifelsohne eine feste Größe in der europäischen Konzertlandschaft. Das Zusammenspiel und die interpretatorische Homogenität sind überragend. Es fehlt allein der große Wurf, der euphorisierende Durchbruch, um sich endgültig in die Ruhmeshallen emporzuschwingen.

Das für seine Begeisterungsfähigkeit geradezu berühmte Gautinger Bosco-Publikum kann durchaus als Gradmesser für die Publikumswirksamkeit gelten. Auch wenn die Zuhörer diesmal lange applaudierten und eine armenische Miniatur draufgelegt bekamen, blieb die frenetische Adelung aus. Zumindest im Schlussapplaus nach Beethovens Streichquartett e-Moll op. 59/2. Die Gründe sind nicht leicht herauszufinden, denn die Interpretation ließ keine Wünsche offen. Schon alleine wie das Ensemble das ursprünglich als "Flickwerk eines Wahnsinnigen" bezeichnete Quartett in eine dramaturgisch schlüssige Form zu gießen vermochte, war schon eine enorme Leistung. Der Spannungsaufbau gleich im Eingang zeigte Mut zur Schärfe. Der nachfolgende Molto-Adagio-Satz breitete eine warmtonige Atmosphäre aus und behielt die volle Aufmerksamkeit der Zuhörer trotz Langsamkeit und Überlänge bis zum letzten Ton im Griff. Die Erregung des Allegretto-Scherzos brachte im Kontrast wieder erfrischende Vitalität ins Spiel, leistete sich gar mit dem russischen Tanzlied darin schmissige Momente, bis ein leichter Ritt im konsequenten Galopp mit die Wirkung steigernden Trübungen wie impulsiven Passagen einen beherzten Presto-Schlusspunkt inszenierte.

Die Dramaturgie und ihre entschiedene Durchführung hätten einen Euphorie-Ausbruch rechtfertigen können, doch das Bosco-Publikum blieb gesittet. Vielleicht fehlte es an überraschenden Momenten, an Mut, sich gegenseitig herauszufordern und dadurch spontaner zu agieren. Dass dies probate Mittel für Publikumswirksamkeit sind, hatte das Ensemble im Zusammenspiel mit dem Blockflötisten Maurice Steger in der ersten Konzerthälfte selbst erfahren dürfen. Seine Spielfreude und Angriffslust aber auch melancholische Verführung vermochte der Musikliteratur des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts üppig Leben einzuhauchen. John Dowland, John Adson und Giovanni Coprario, später auch Antonio Vivaldi (Concerto RV 375, Anfang 18. Jahrhundert) machten das Kuss Quartett zu einer überzeugenden Hofkapelle, die sich auch auf tänzerischer Verve verstand. Mit seiner überbordenden spieltechnischen Differenzierung und vor allem seiner ausdrucksstarken Diktion vermochte Steger mit Blockflöten in verschiedenen Stimmlagen mal berührend-warmtonige mal virtuos-bravouröse Höhenflüge zu entfachen.

Die Todesthematik kombinieren die Musiker mutig mit absurder Komik

Mit dem solistischen "Engels Nachtegaeltje" von Jacob van Eyck, gespielt im Parkett, machte Steger mit fingerakrobatischer Spielweise definitiv klar, dass sein Instrument weit mehr Aufmerksamkeit verdient als ihm zuteilwird. Das präzise, mit Melismen filigran verzierte und narrative Trällern wurde geradezu zum Paradestück euphorisierenden Musizierens, das bei Vivaldi nicht minder mitreißend zur Geltung gelangte.

Jedenfalls sahen die Musiker genügend Potential darin, die Komposition von 2021 "Sei gutes Muts" der Deutschniederländerin Iris Ter Schiphorst (geb. 1956) zu wagen. Mit rhythmisch immer wieder skandierten Worten aus dem Gedicht "Der Tod und das Mädchen" von Matthias Claudius und Mut zu schrillen Schrägen bewährte sich das Kuss Quartett leidenschaftlich im zeitgenössischen Spiel. Die Musiker fanden auch zum nötigen Sarkasmus, die Todesthematik kombinierten sie mit absurder Komik. Dennoch gut, dass Vivaldi erst danach folgte. So konnte die Euphorie des Bosco-Publikums- nach Zugabe - zumindest die Pause einläuten.

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