Man kann heutzutage nur verwundert den Kopf schütteln, dass Johann Sebastian Bach seine pädagogischen Fähigkeiten erst unter Beweis stellen musste, um bei der Neubesetzung der Stelle des Thomaskantors in Leipzig berücksichtigt zu werden. Georg Philipp Telemann hatte abgesagt, Christoph Graupner wurde von seinem Dienstherrn nicht freigestellt. Bach war also nur die dritte Wahl unter der Voraussetzung, beweisen zu können, dass er trotz fehlenden Hochschulstudiums in der Lage war, an der Thomasschule Gesang und Instrumente zu unterrichten.
Das gelang ihm offenbar mit den Sammlungen von Inventionen, Sinfonien sowie Präludien und Fugen des „Wohltemperierten Klaviers“, jeweils mit Angabe des didaktischen Schwerpunkts auf dem Titelblatt. Die zweistimmigen Inventionen BWV 772–786 schrieb er ursprünglich ins Notenbüchlein seines Sohnes Wilhelm Friedemann, wie die in Gilching lebende Pianistin Elizabeth Hopkins in ihrem ersten Teil ihrer Konzertreihe "Bach für Liebhaber“ an Bachs 340. Geburtstag erläuterte.
Im Veranstaltungssaal des Rathauses nutzte sie die Möglichkeit der Projektion des Notenbildes. Dies ermöglichte den Besuchern, die Systematik von Bachs Musik mitzuverfolgen. Die ursprüngliche Reihenfolge auf Basis der didaktischen Problemstellung konnte Hopkins getrost ignorieren und interpretierte die musikalisch keinesfalls nachrangigen Miniaturen in der heute üblichen Reihenfolge der Tonarten, auch wenn Bach dabei die komplexeren ausließ.
Schon in den relativ einfachen Werken führte Hopkins im Grunde beiläufig vor Ohren, dass die konstruktive Systematik Bachs der musikalischen Ästhetik keinesfalls abträglich ist. Bach wusste, dass die Schönheit in der Ordnung liegt. Die Kunst der Melismen jener Zeit machte die Stücke zwar knifflig, dennoch wahrte Hopkins mit Bravour und metrischer Exaktheit die barocke Poesie. Jeweils eine bestimmte Problematik der Spieltechnik zu fokussieren und dennoch die Musikalität nicht zu vernachlässigen, war für Bach eine nahezu alltägliche Übung, hatte er doch mit seinen begabten Söhnen alleine zu Hause genug zu tun, didaktische Medien herzustellen. Dass er die Töchter diesbezüglich vernachlässigte, verwundert etwas angesichts dessen, dass er seine zweite Frau, die Sopranistin Anna Magdalena, in den familiären Musikbetrieb einband.
In ihr berühmtes Notenbüchlein notierte er zwei Partiten, die den Grundstock für das Kompendium der „Sechs Partiten“ bildeten, aus denen Hopkins für ihren Abend die Nr. 1 B-Dur BWV 825 ausgewählt hatte. Auch hier erstaunt es, mit welcher Effizienz Bach mit sparsam eingesetzten Mitteln die Eigenheiten der einzelnen Tänze der Suite herauszuarbeiten verstand. Im Praeludium wurde ein stetes Schreiten umspielt und von Melismen veredelt, die Allemande sinnierte in fließender 16tel-Bewegung. In der Corrente stellte Bach Dreiergruppen einer synkopierten Motivik gegenüber, was einen raschen Galopp ergab. Gemächlich und breit strömte die Sarabande, von der ruhigen Achtelbewegung des Menuet I aufgegriffen, um von Menuet II feierlich schreitend kontrastiert zu werden.
Im Gigue-Finale umflorten indes Arpeggien ein eingeflochtenes Thema mit dramaturgischer Substanzzunahme zum Schluss. Als Höhepunkt des Programms musste ein gewichtigeres Vortragsstück folgen. Hopkins entschied sich für ein imposantes und berühmtes Werk: die „Chromatische Fantasie und Fuge“ d-Moll BWV 903(a). Die Gewandtheit, mit der Bach modulierte und sich gänzlich frei durch die Tonarten bewegte, findet darin eines der kompliziertesten Beispiele, kombiniert mit bravouröser Virtuosität, die Hopkins adäquat nicht brillieren ließ, ist sie doch im Barock kein vorrangiges Bestreben.
In den Erläuterungen kam eine weitere Problematik zur Sprache, die gerade in der Familie Bachs exemplarisch vorliegt. Ist bei der Partita noch ein zuverlässiger und autorisierter Text anzunehmen, da die Notenstecher zu Bachs Schülern gehörten, setzt sich der überlieferte Text der „Chromatischen Fantasie und Fuge“ aus mehreren Abschriften zusammen. Allein innerhalb des Familienbetriebes kursierten mehrere, die unabhängig voneinander im Detail weiterentwickelt wurden. Hopkins interpretierte dennoch wie aus einem Guss und setzte dem Bach-Abend eine imposante Krone auf. Das ruhig schreibende Fugenthema - kontrastiert mit einem fließenden 16tel-Kontrapunkt - erfuhr wie die Gigue der Partita eine Zunahme an Klangfülle und Gewichtigkeit, die zu einem beeindruckenden Schluss führte und eigentlich keine Zugabe mehr zuließ. Doch Hopkins ließ sich vom Publikum erweichen und hängte die Nr. 4 in D-Dur aus den „Sechs kleinen Präludien für Anfänger“ dran.
Teil zwei der Reihe „Bach für Liebhaber“ findet am 16 Mai um 19.30 Uhr (Wierholung am 18. Mai um 11 Uhr) statt.