Ausstellung:Poesie des Einkaufszettels

Vier Künstler aus Dießen, Wörthsee und Unna im Ruhrgebiet zeigen im Taubenturm die Ergebnisse eines ungewöhnlichen Austausches

Vier Leute beschließen, Grenzen zu überschreiten, und suchen sich für dieses Unterfangen ausgerechnet einen Turm aus.

Ausstellung: Nuë Ammann (hier mit Hund Toni), Elke Emmert, Cristina Blank und Jürgen Oliver (v.li.).

Nuë Ammann (hier mit Hund Toni), Elke Emmert, Cristina Blank und Jürgen Oliver (v.li.).

(Foto: Arlet Ulfers)

Es klingt gefährlicher, als es ist. Nuë Ammann, Cristina Blank, Jürgen Oliver Blank und Elke Emmert haben sich für ein gemeinsames Ausstellungsprojekt gegenseitig ihre Kunstwerke zugeschickt und die jeweils anderen ausdrücklich dazu aufgefordert, Grenzen zu überschreiten - indem sie nacheinander die künstlerische Arbeit des Vorgängers fortsetzen, kommentieren, unkenntlich machen oder gar zerstören. Das Ergebnis zeigen sie jetzt im Taubenturm des Dießener Marienmünsters.

Das Übermalen von Gemälden oder Fotografien hat in der Kunstgeschichte bekanntermaßen eine gewisse Tradition, und aus der Mail-Art-Szene stammt die Idee von "Add & Pass", was nichts anderes bedeutet, als ein Kunstwerk zu bearbeiten und weiterzuschicken.

Ausstellung: Arbeit ohne Titel.

Arbeit ohne Titel.

(Foto: Arlet Ulfers)

Dennoch dürfte Nuë Ammann kaum damit gerechnet haben, dass Jürgen Oliver Blank eine ihrer Papierskulpturen samt der darin enthaltenen Textbotschaften in den Aktenschredder stecken würde. Auch Elke Emmert wird wohl gezuckt haben, als sie eines ihrer Gemälde mit dem Vermerk "No Art" zurückbekam. Leinwände wurden aufgeschlitzt, übermalt und überklebt, Fotos bekritzelt oder gleich in schmale Streifen geschnitten, es wurden Schnecken gepflanzt und "Samenleitern" gebaut, bis jemand zu dem Schluss kam: "Das Chaos ist aufgebraucht."

Aber bei Weitem nicht alle Eingriffe waren destruktiv und grenzüberschreitend: So wurde etwa das Gedicht "Hausratversicherung" mit einem offiziellen Schreiben der "Barmherzia Versicherung" mit Sitz in "St. Berhardiner an der Leine" samt Versicherungsschein für Schöpfkelle, Sicherheitsnadel und Lippenstift beantwortet. Aus einem schnöden Stück zerknitterten Papiers, das sich in einer Atelierecke fand, wurde die einsame Turmbewohnerin Fräulein Agathe mit zitternder Luftpolsterfolienfrisur und diagnostizierter Zahnarztphobie. Und ja, aus einem Herz kann man ein Pfund Hackfleisch machen und aus einem gefundenen Einkaufszettel ein wundersames Stück Poesie.

Nuë Ammann, Cristina Blank und Jürgen Oliver Blank hatten die Künstlerin Elke Emmert 2016 auf der Münchner Kunstmesse ARTMUC kennengelernt. Als man auseinander ging, beschloss man, "in Kontakt zu bleiben". Aus diesem Vorsatz entwickelte sich die Idee eines "experimentellen Kunstprojekts" mit dem erklärten Ziel, Kunstwerke zu zeigen, die ausnahmslos vier Schöpfer haben.

Während des Prozesses stießen die vier Künstler zunächst an ihre persönlichen Hemmschwellen und inneren Grenzen, die es jedoch zu überwinden, zu unterwandern oder auch aufzulösen galt: Eine unbearbeitete Weitergabe war ausdrücklich ausgeschlossen. Einige der Exponate sind deshalb sicherlich eher als Zeugnisse des Scheiterns zu verstehen denn als schlüssige formale Lösungen.

Die weitaus meisten "Kunstwerke" aber demonstrieren höchst eindrücklich den Spaß, den die vier offensichtlich miteinander hatten - wie im Übrigen auch die Einladungskarte, die in der Art von "Cadavre Exquis" eine Montage aus allen vier Gesichtern zeigt.

Ausstellung: Experimente im Taubenturm.

Experimente im Taubenturm.

(Foto: Arlet Ulfers)

Insgesamt waren es 48 Arbeiten, die zwischen Dießen, wo die Wortkünstlerin Nuë Ammann lebt, und Unna im Ruhrgebiet, dem Wohnort der Malerin Elke Emmert, hin und her geschickt wurden. Vom Ammersee an den Wörthsee, wo die Künstlerin Christina Blank und ihr Mann, der Fotograf Jürgen Oliver Blank leben, war es nicht ganz so weit.

Ende 2017 hatte jeder Teilnehmer die ersten drei eigenen Arbeiten auf die Reise geschickt. Von Runde zu Runde wurden die Pakete größer. Und ganz zuletzt sind zehn Kunstwerke auf dem Postweg von Unna nach Dießen verschollen - in der Hoffnung, dass sie während der Laufzeit der Ausstellung noch eintreffen, haben die Künstler ihnen das oberste Turmstübchen freigehalten. Vorläufig dürfen die Besucher dort in luftiger Höhe über den Dächern von Dießen das Überschreiten von Grenzen üben - nein, nicht am offenen Fenster, sondern auf einem fest abgesteckten Spielfeld.

Die ungewöhnliche Ausstellung "Grenzüberschreitung" im Dießener Taubenturm ist noch bis zum Sonntag, 9. September, zu sehen. Die Öffnungszeiten: jeweils samstags und sonntags in der Zeit von 12 bis 18 Uhr.

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