Süddeutsche Zeitung

Ausstellung in Gauting:Die morbide Ästhetik des Verfalls

Peter Untermaierhofer hat fünf Tage lang im Sperrgebiet rund um das Kernkraftwerk Tschernobyl fotografiert. Obwohl dort der Tourismus boomt, zeigen seine Bilder menschenleere Szenerien und Orte

Von Katja Sebald, Gauting

Das Fotografieren an verlassenen Orten ist ganz groß in Mode. Unter dem Stichwort "Lost Places" findet man unzählige Blogs, Ratgeberseiten und Plattformen, auf denen Profifotografen und Hobbyknipser ihre Bilder von Spukschlössern und Geisterstädten einstellen. Es gibt eine regelrechte Bewegung von Menschen, die in fremden Städten und Ländern nicht die gängigen Sehenswürdigkeiten besuchen, sondern ruinöse Industriegebäude, stillgelegte Bahnhöfe oder nicht mehr bewohnte Dörfer erkunden. Auch Peter Untermaierhofer aus dem niederbayerischen Mitterskirchen fotografiert "Lost Places". Im Gautinger Kulturzentrum Bosco zeigt er derzeit Bilder, die im Jahr 2017 in der Sperrzone von Tschernobyl im Norden der Ukraine entstanden sind.

Für den sogenannten "Urban Explorer" - oder kurz "Urbexer" - geht es neben der Entdeckung und Dokumentation von verlassenen Orten und der morbiden Ästhetik von Verfall, Verwilderung und Überwucherung natürlich auch um das Abenteuer und den Kitzel, den das verbotene Eindringen in leer stehende Gebäude mit sich bringt. Umso erstaunlicher ist es, dass man mittlerweile so etwas wie eine Pauschalreise buchen kann, wenn man im Sperrgebiet rund um Tschernobyl fotografieren will. Auch Peter Untermaierhofer buchte einen "Privat Guide" sowie Hotelunterkunft und Verpflegung für seinen fünftägigen Aufenthalt in der ukrainischen Stadt Prypjat, die am Tag nach der Reaktorkatastrophe im nahegelegenen Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 evakuiert wurde und seither dem Verfall preisgegeben ist. Prypjat war 1970 für rund 50 000 Kraftwerksarbeiter als sozialistische Idealstadt errichtet worden. Es galt als Privileg, im Schatten des Reaktors zu leben und im Kernkraftwerk zu arbeiten. Heute ist die verlassene Stadt einer der bekanntesten und spektakulärsten "Lost Places" in Europa - und wohl auch einer der meistfotografierten.

Im Jahr 2011 wurde das Gebiet um das Kernkraftwerk Tschernobyl endgültig für den Tourismus geöffnet, man geht mittlerweile von bis zu einer Million Besuchern pro Jahr aus. Das Forbes Magazine führt Tschernobyl auf seiner Liste der "world's unique places to visit", der weltweit einzigartigen Orte für einen Besuch. So faszinierend dieser Besuch und so aufregend der piepsende Geigerzähler für jeden einzelnen Besucher sein mögen, so austauschbar erscheinen doch die Bilder, die dabei entstehen. Man muss nicht lange suchen, um auch im Netz das traurige Riesenrad auf dem Rummelplatz zu finden, der nie in Betrieb genommen wurde: Er sollte zu den Feierlichkeiten am 1. Mai 1986 eröffnet werden. Gleiches gilt für den Wald, der zwischen Plattenbauten wuchert, für die Gasmasken auf dem Boden einer Schule, für das leere Schwimmbad, in dem die Fliesen von den Wänden fallen und für den Blick auf das alles überragende Kernkraftwerk am Horizont unter seinem riesenhaften Sarkophag. Die einst allgegenwärtige und heute verblassende sowjetische Propaganda aus der Zeit vor Glasnost und Perestroika ist ebenfalls ein beliebtes Fotomotiv. Gemeinsam ist allen Bildern, dass sie stets menschenleere Szenerien und Orte zeigen, die so wirken, als gäbe es keinen Gruseltourismus.

Peter Untermaierhofer wurde 1983 in Eggenfelden geboren. Er absolvierte an der Technischen Hochschule Deggendorf ein Studium der Medientechnik und studierte anschließend an der James Cook University im australischen Townsville Fotografie. Seit 2008 widmet er sich der Fotografie, seine Tschernobyl-Fotografien im Bosco präsentiert er als großformatige Ausdrucke auf Leinwand.

Peter Untermaierhofer: Lost Places - Chernobyl, bis Sonntag, 15. Dezember zu den Öffnungszeiten des Bosco und während der Abendveranstaltungen. Im Rahmen eines Bildvortrags am Donnerstag, 28. November, bietet der Künstler Einblicke in die Entstehung der ausgestellten Fotoserie.

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Quelle:
SZ vom 23.09.2019
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