Der Tod in seiner Endgültigkeit macht oft sprachlos und es fällt schwer, angesichts seiner Unumkehrbarkeit die richtigen Worte zu finden. Für den Weßlinger Poeten und Verleger Anton G. Leitner trifft das Gegenteil zu. Den Tod seines Vaters, dem Gründungsdirektor und langjährigen Schulleiters des Carl-Spitzweg-Gymnasiums in Germering, am 3. Mai 2021 hat er in Gedichten und kleinen Prosastücken verarbeitet. Es ist eine höchst individuelle Form der Trauerbewältigung.
Tagebuchartig hat Leitner die Erinnerungen seiner eigenen Zeitrechnung zugeordnet. Sie beginnt dabei mit "Tag 2 nach dem Tod des Vaters" und endet am "Tag 397, 1 Jahr, 1 Monat und 1 Tag nach dem Tod des Vaters". Danach hat Leitner ein Jahr lang eine Auswahl an Tagen, Erinnerungen und Fotos aus dem Familienalbum zu einem Buch zusammengefügt. Herausgekommen ist ein sehr persönlicher, intimer Rückblick auf den Vater und die gemeinsame Zeit mit dem allseits beliebten Altphilologen und Humanisten. Es heißt: "Vater, unser See wartet auf dich - Erinnerungsstücke und nachgerufene Verse".
Im Seehaus Raabe las Anton G. Leitner auf Einladung des Rotary Clubs Wörthsee nun das erste Mal in Bayern aus dem 110 Seiten starken Buch (erschienen in der Edition "Das Gedicht"). Verzweiflung und eine große Leere klingen aus den Versen, die 30 Stunden nach dem Tod entstanden sind. "Vater, wo bist du? Wo bin ich ohne dich? Wohin, quo vadis, hin und weg. Zurück auf Anfang. Vater mein", klagt der einzige Sohn. Leitner ist Profi. Den richtigen Ausdruck und die beste Vortragsweise lernen Hobbypoeten in seinen Lyrikworkshops. Und so gelingt es ihm ebenfalls, die sehr bewegenden Erinnerungen an die Tragik der letzten Lebensstunden seines Vaters, mit fester Stimme vorzutragen.
Am Tag 26 hat er darüber geschrieben und das Kapitel mit "Der Weg in den Himmel führt über die Rezeption der höllischen Realität" übertitelt. Zeitraubende Corona-Bürokratie gepaart mit Desinteresse hatten wertvolle Zeit gekostet, bis der Sohn endlich das Krankenhaus, in dem sein sterbender Vater lag, betreten durfte. Nach einem Treppensturz durch einen vermuteten Schlaganfall war der sich heftig sträubende Vater in die Klinik eingeliefert worden, dort verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rasch. "Ich renne und renne, und bis ich endlich auf Station bin, ist Vater schon tot", heißt es im Buch.
82 Jahre alt ist der Vater geworden, und genau zwei Jahre nach dem Tod ist das Buch erschienen. Es sind Geschichten, die man aus Berichten während der Corona-Zeit kennt und die noch im Nachhinein betroffen machen. Die Sekunden bis zum nächsten Lesestück tun gut. Eine Frau schüttelt den Kopf, andere der etwa 20 Zuhörer starren unverwandt auf den Wörthsee, der vollkommen glatt im Abendlicht hinter den Fensterscheiben von "Raabes Seehaus" liegt.
Vater und einziger Sohn waren sich sehr nahe. Nicht nur räumlich - die beiden lebten mit ihren Ehefrauen Haus an Haus - sondern auch sonst: "...Wir zwei. Dasselbe Holz. Hartholz", beschreibt der Sohn beider Dickschädeligkeit. Und obwohl die beiden täglich miteinander kommunizierten, klagt er an "Tag 19": "noch so viel ungesagt zwischen uns". Der charismatische Vater und das nicht minder raumgreifende Temperament des Sohnes - vor allem in der Jugend hätten sie sich oft aneinander gerieben, erinnert sich der 61-jährige Leitner. "Am Schluss haben wir uns gut verstanden."
Das Buch ist eine Hommage an einen geliebten und zutiefst menschlichen Vater
Im Buch sind die "wilden Phasen" und andere Schlüsselmomente in der Vater-Sohn-Beziehung in humorvollen Anekdoten verewigt. "Ein Buch nur zum Weinen, das hätte meinem Vater nicht entsprochen, man soll auch lachen können", betont der Autor und gibt die Erinnerung (Tag 33) zum Besten, als nach Machtkämpfen über die Lautstärke der Beatles-Musik im Kinderzimmer "...Vater eines Tages gegen Mitternacht mit Mutter bei unserer fetzigen Kellerparty aufkreuzt, fast wie selbstverständlich eintaucht ins Stroboskoplicht und im Inkognito-Modus zu tanzen beginnt mit ihr auf klassische Weise zu All you need is ..."
Auf der gegenüberliegenden Buchseite sieht man das Foto der Eltern im Siebzigerjahre-Look, mit weißer Hose und kurzem Sommerkleid. Es sind solche Fotos und Erinnerungen, die es wohl in den meisten bundesdeutschen Familien gibt, die das Buch vertraut erscheinen lassen: Die lange Autofahrt im Käfer an die Adria und dort das gemeinsame Radeln in der Fahrradkutsche, "Gelati" am Strand. Anton junior erinnert aber auch an die für alteingesessene Weßlinger übliche Art bereits in der Früh, nur mit Badehose und Bademantel bekleidet, durch das Dorf zum See zu wandeln. Erst im Nachhinein sei ihm aufgefallen, dass er, der die vergangenen zehn Jahre ausschließlich auf Bairisch gedichtet hatte, in den ersten Monaten nach dem Tod nur Hochdeutsch schreiben konnte.
Das Buch ist eine Hommage an einen geliebten und zutiefst menschlichen Vater. Wenngleich Leitner reimt: "Die Zeit eilt, heilt keine, meine, deine Wunden...." - am Schluss hat sich der Sohn mit dem Unvermeidlichen arrangiert. Am Grab des Vaters grübelt er über den Namen "Eisbegonie". Statt des Vaters, dem wandelnden Lexikon, antwortet eine Amsel in mehreren Strophen. Er "kommuniziert mit mir vielleicht über jene Waldameise, die gerade meine Nackenhärchen krault, verdächtig sanft". Und dann hört er den Vater, wie er über die Eisbegonie doziert: "Bua, die kemma vo Brasiljen und mengs goa need koid, awa blian deans wia de Wuidn, bis friad". Dann warnt er ihn noch vor der Waldameise. "Vater sieht offenbar wirklich alles durch die göttlichen Augen der Begonien."