Die Schreie sind markerschütternd und durchschneiden die Stille des beginnenden Tages wie ein Donnerschlag. Ein greller, hoher Ton, immer wieder. Das Rehkitz, vielleicht zwei Wochen alt, hat Angst. Woher sollte es auch wissen, dass die beiden Menschen, die es gerade mit einem großen Kescher gefangen haben und nun in eine Plastikkiste packen, ihm wahrscheinlich gerade das Leben retten? „Gleich vorbei“, beruhigt Florian Hammers das aufgeregte Jungtier und legt ihm noch ein Büschel feuchtes Gras mit in die Box. Und tatsächlich: Kaum dass der Deckel geschlossen und die Gurte zugezogen sind, ist es wieder mucksmäuschenstill auf der Wiese in Landstetten bei Andechs und die aufgehende Sonne übernimmt die Show.
Elvira Zesewitz, 55, und Amrei Fischer, 19, tragen die Box an den Waldrand, Florian Hammers markiert die Fundstelle mit einer Fahne: Das Zwillingskitz, das hier ebenfalls in der hohen Wiese lag, war weggelaufen, als Hammers mit seinem Kescher zuschlug. „Wahrscheinlich ist es in 20 Minuten wieder hier“, erklärt er. Denn dort, versteckt im hohen Gras, wird es das Muttertier später zum Säugen suchen. Durch die Markierung soll auch dieses Tier die Chance bekommen, noch rechtzeitig gerettet zu werden. Denn in den nächsten ein bis zwei Stunden wird ein mächtiger Traktor mit messerscharfem Mähbalken nur wenige Zentimeter über der Grasnarbe über das Feld donnern. Die Fahne signalisiert ihm, dass er sich dieser Stelle nur langsam nähert und nach dem Tier Ausschau hält. Vom Steuer ihrer großen Traktoren aus sind die Kitze, die sich bei drohender Gefahr noch tiefer ins Gras ducken, für die Landwirte nicht zu erkennen.
Die Mahd bedeutet darum für zahlreiche Wildtiere Tod und Verstümmelung. Allein in Deutschland erleiden nach Schätzungen jährlich mehr als 100 000 Rehkitze auf diese Weise einen grausamen Mähtod oder werden schwer verletzt. Ehrenamtliche durchstreifen darum in der Setzzeit Wiesen oder fliegen die Flächen auf der Suche nach Jungtieren mit Drohnen ab, bevor diese gemäht werden. Sie bringen Kitze, junge Hasen oder Vogelgelege in Sicherheit. Für die landwirtschaftlichen Betriebe ist der Aufwand meist zu groß. Auch im Landkreis Starnberg sind seit vier Jahren Helfer im Einsatz.
Wie läuft die Rettung ab und was für Menschen sind das, die wochenlang morgens um halb fünf losziehen, um Wildtiere zu retten? Auf dem Parkplatz vor dem Schützenheim in Andechs-Erling herrscht am Dienstagmorgen Aufbruchstimmung. Es ist 4.45 Uhr und es ist noch dunkel. Knapp 15 Leute parken ihre Autos und begrüßen sich erwartungsvoll und überraschend gut gelaunt für die Uhrzeit. Darunter unter anderem eine Studentin, ein Jäger, eine Flugbegleiterin, eine Hausfrau. Viele haben wasserdichte Hosen und feste Schuhe an, außerdem eine orangefarbene Warnweste.
Jana Schmaderer, 56, öffnet ihren Kofferraum. „Braucht jemand noch was?“, fragt sie in die Runde und verteilt Klapp-Kisten, Markierungsstangen und Fähnchen. Sie hat tags zuvor die Helfer abgefragt, wer beim Einsatz dabei sein kann und die Gruppen eingeteilt. Ihr Mann Peter, 67, ist Ansprechpartner für die 30 Landwirte und13 Jagdpächter, mit denen der Verein inzwischen zusammenarbeitet. Der Rentner nimmt die Anrufe, WhatsApps oder E-Mails entgegen – meist melden die Bauern einen Tag vorher an, welche Wiesen sie um welche Zeit zur Silo- oder Heuproduktion mähen wollen. Entsprechend stellt Schmaderer die Touren zusammen. „Also, auf geht’s“, sagt er, und die Teams machen sich mit möglichst wenigen Autos auf den Weg.



Wie viele andere Organisationen auch arbeitet die Kitzrettung in Andechs mit Wärmebild-Drohnen. Drei Drohnen stehen aktuell zur Verfügung, eine vierte soll demnächst gekauft werden. Denn mittlerweile haben vier Helfer den Führerschein gemacht und können die wertvollen Fluggeräte steuern. Zwei weitere sind aktuell in Ausbildung, die Kurse finden online statt. „Entscheidend ist die Übung“, weiß Peter Schmaderer. Der Verein ist technisch gut ausgerüstet, was vor allem an Florian Hammers liegt: Der 39 Jahre alte Informatiker aus Gilching hat eine App entwickelt, auf der sämtliche Flächen erfasst sind und in der die Teams ihre Kitz-Funde von unterwegs aus am Handy eintragen können.
Schmaderer kann den Piloten dank des Programms zudem die Koordinaten der zu überfliegenden Flächen morgens auf einem USB-Stick übergeben. In der Regel konzentriert sich der Pilot auf das Fliegen, während zwei weitere Helfer als sogenannte Spotter fungieren und den Bildschirm kontrollieren. Über Funkgeräte stehen sie in Kontakt. Florian Hammers fliegt seine private Drohne und hat den Bildschirm ins Steuergerät integriert. In 60 Metern Höhe surrt das Ding wie ein kleines Ufo über die Wiesen, bis zu 300 Meter weit lässt es Hammers fliegen.

Elvira Zesewitz und Amrei Fischer schauen ihm immer wieder über die Schulter: Wo tauchen auf dem schwarz-weißen Bildschirm rote Punkte auf und wie groß sind diese? Auch Maulwurfhügel oder große Blätter in der Wiese können sich im Sonnenlicht aufheizen, außerdem sind auch Hasen, Füchse, Dachse oder Marder unterwegs. Also schaltet er immer die Bildkamera ein, um zu sehen, was da als mehr als 36 Grad warmer Fleck angezeigt wird. Gleich in der ersten Wiese sieht man auf dem Bildschirm zwei Kitze nebeneinander liegen. Jetzt muss es schnell gehen.
Riechen die Kitze nach Mensch, nimmt die Geiß sie womöglich nicht mehr an
Während Hammers mit dem Kescher voraus in die Wiese geht, reißen die Frauen einige Grasbüschel aus und legen sie in die Kiste, mit der sie Hammers schließlich folgen. Alle tragen Handschuhe. „Kitze haben so gut wie keinen Geruch, ein Geniestreich der Natur“, erklärt Hammers. Darum legt die Muttergeiß, die sehr wohl von Jagdfeinden gewittert werden kann, ihren Nachwuchs regelmäßig versteckt in hohen Wiesen ab und kehrt immer wieder zum Säugen zurück. „Meistens ist die Geiß auch in der Nähe und steht nur 150 Meter weit entfernt im Wald“, weiß Hammers. Riechen die Kitze nach Mensch, nimmt die Geiß sie womöglich nicht mehr an. Seine Schritte werden jetzt langsamer. „Wir müssen leise sein“, flüstert Elvira Zesewitz. Dann hat Hammers das Kitz im Netz. Ein kurzer Moment der Erleichterung, bevor alles wie automatisiert abläuft.
„Es ist wichtig, dass man eingespielt ist“, sagt Hammers. Das spart Zeit. Und bei 13 Flächen, die er an diesem Morgen rund um Andechs abzufahren und abzufliegen hat, ist Zeit ein entscheidender Faktor. Zum einen, weil sich mit zunehmender Stunde die Tiere nicht mehr so einfach mit der Wärmebildkamera erkennen lassen. Zum anderen, weil die Landwirte mit ihren Traktoren loslegen wollen.
Sobald die Kiste abseits und für die nächsten Stunden schattig abgestellt steht, geht es zurück zum Auto. Schnell den Fund melden und die Drohne landen, einpacken. Wenn alle Flächen abgeflogen sind, und die Bauern jene Wiesen zuerst gemäht haben, aus denen ein Kitz gerettet wurde, kommen die Helfer zurück und setzen die Jungtiere wieder aus. Nicht auf dem frisch gemähten Feld, das wäre zu gefährlich wegen der Raubvögel. „Am Rand in der Wiese“, wo es das Muttertier gut finden kann“, erklärt Jana Schmaderer. Es ist schon passiert, dass die Boxen bei der Rückkehr leer waren, weil Spaziergänger dem eingesperrten Tier helfen wollten. Seither sind die Boxen beschriftet. Es kam auch schon vor, dass sie verletzte Tiere aufgespürt haben, von Fressfeinden zerbissen – oder aber von Hunden. Das schlimmste aber sei es, wenn trotz ihrer Bemühungen Kitze von der Maschine verstümmelt werden, weil die Trupps ein Tier übersehen haben oder aber aufgeschreckte Jungtiere später erneut irgendwo im Feld lagen. „Solche Bilder bleiben haften“, sagt Jana Schmaderer.

Die Kultur- und Gartenpädagogin hat den Verein 2021 mit ihrem Mann gegründet, nachdem sie zuvor ein Jahr lang in Polling bei der Kitzrettung aktiv war. „Unser Herz schlägt dafür“, erklärt sie. „Wildtiere finden einfach zu wenig Beachtung.“ Es gab damals ein Förderprogramm zur Anschaffung von Drohnen, also setzte man sich mit Landwirten, dem Andechser Bürgermeister Georg Scheitz und Jagdpächtern zusammen. Ganz zaghaft habe ihr Projekt begonnen, bis sich nach und nach mehr Bauern meldeten.
Rund um Andechs sind die meisten inzwischen dabei, doch auch aus entfernteren Gemeinden meldeten sich bald Interessenten. Mittlerweile betreuen sie zwischen Machtlfing und Dießen Flächen, die zusammengenommen mehr als 1000 Hektar groß sind, was etwa 1400 Fußballfeldern entspricht. Die Schmaderers holten das Einverständnis der Jagdpächter für die entsprechenden Reviere ein und die Überfluggenehmigungen aus den Landratsämtern. „Die Zusammenarbeit wird immer besser, in allen Bereichen“, sagt Jana Schmaderer. Inzwischen landet auch mal eine Stiftungs- oder Privatspende auf dem Vereinskonto.
Sechs bis acht Wochen dauert die Setzzeit im Frühjahr, im vergangenen Jahr gab es elf Einsatztage mit insgesamt 250 Einsatzstunden für jene, die immer dabei waren. Heuer waren es schon 20 Einsätze für die Kitzretter, die dringend zusätzliche Helfer suchen, um noch mehr Teams bilden zu können und die morgendlichen Routen kürzer zu gestalten. „Viele müssen ja im Anschluss in die Arbeit“, sagt Schmaderer. „Und nicht alle wollen tagelang in Folge so früh aufstehen.“ Wie die Schmaderers das selbst schaffen? „Es ist ja auch irgendwann wieder vorbei“, sagt die 56-Jährige nur. Und außerdem sei das Adrenalin vor den Einsätzen immer hoch. Da muss Florian Hammers lachen. „Ab Tag fünf nimmt auch das Adrenalin ab“, sagt er und lächelt müde. Er ist immer dabei, für zwei Wochen hat er sich Urlaub genommen. „Sonst ist man irgendwann total Matsche in der Birne.“ Sieben gesicherte Kitze an einem Tag, das ist sein Rekord.



Hammers hat mit seiner Lebenspartnerin selbst einen Verein zur Tierrettung: „Tierpiraten“ nennen sie sich und helfen Igeln, Eichhörnchen oder suchen mit der Drohne nach entlaufenen Hunden. „Für mich gibt es nicht viel Schöneres, als ein Tier zu retten“, sagt er. Die Einsätze mit der Kitzrettung seien „extrem befriedigend“. Und mit Technik spielen könne er auch noch.
Den Vorwurf, der Mensch solle die Natur doch besser sich selbst überlassen, kann Hammers verstehen. Er habe kein Problem damit, wenn Kitze von Fressfeinden erlegt werden oder in kalten Aprilnächten erfrieren. „Das ist die Natur.“ Aber ist ein Mähbalken Natur? Ist die stetige Besiedelung Natur? „Der Mensch nimmt nur“, sagt er. Später wird er auf einer Wiese ein weiteres Kitz fangen und in eine Kiste sperren. „Es ist auch ein bisschen so, als würde man etwas zurückgeben“, sagt Jana Schmaderer, die ähnlich empfindet.
Sie sitzt mittags im Auto auf dem Weg nach Hause. Die zwei Kitze sind wieder freigelassen. Bislang haben die Landwirte keine Unfälle mit Jungtieren gemeldet, ein guter Tag. Ein schneller Kaffee, dann geht es nach Hause – wo die Planungen für den nächsten Tag anstehen.