Adventskalender für gute Werke:Mit dem Leben davongekommen

Die Familie aus dem Nordirak versucht, vor allem den Kindern ein normales Leben zu ermöglichen. Doch Integration ist schwer und teuer

Von Ute Pröttel, Starnberg

Sein sehnlichster Wunsch lässt sich mit keinem Geld der Welt bezahlen. Jashar Kadre (Name geändert) hat seinen Vater seit fünf Jahren nicht gesehen. Der 39-jährige Mann aus dem Irak verliert dann doch die Fassung, als er nach der Erzählung seiner langen und schrecklichen Geschichte, die ihn nach Deutschland geführt hat, daran denkt, dass er den Vater vielleicht nie wieder sehen wird.

Im Nordirak gehörte er zum Mittelstand. Seine Frau war Lehrerin für Geografie, er Elektroingenieur und im Fachgeschäft seines Vaters tätig. Auch seine Brüder arbeiteten mit. Die Familie war nicht reich, aber sie lebte gut. Zumindest bis das Regime von Saddam Hussein zusammenbrach. Dann rückten Familien wie die Kadres auf das Radar der Terroristen des Islamischen Staats. Sie benötigten Geld und begannen die Familie zu erpressen. Doch die Kadres weigerten sich zu zahlen. Sie wussten, das Geld würde für terroristische Zwecke gebraucht. "Zahlst du einmal, kommen sie immer wieder", sagt Jashar Kadre. Er wird immer wieder bedroht.

Einmal wird ihm auf offener Straße eine Pistole an den Hinterkopf gehalten. Es löst sich keine Schuss, doch Kadre erhält einen so schweren Schlag auf den Kopf, dass er für Monate ins Krankenhaus muss. Er leidet unter Amnesie, erkennt seine Frau nicht mehr. Er erholt sich und zieht mit seiner Frau und dem kleinen Sohn um, eröffnete ein zweites Geschäft. Doch die Terroristen kommen wieder, greifen ihn erneut an, zünden eine Bombe in dem neuen Laden, versuchen seinen Sohn zu entführen. Seine Frau Sema Quasim verteidigt das Kind. Die Spur des Kampfes trägt sie für immer auf der Stirn. Die Lehrerin verlässt das Land. "Meine Mutter sagte mir, studiere, dann wirst du ein gutes Leben haben", erzählt sie. "Und was haben wir jetzt?" Sie hat viel durchgemacht. Kommt allein mit dem damals vierjährigen Sohn nach Deutschland. Da holt sie die schreckliche Nachricht ein: Das letzte Kapital der Familie, das Auto wurde während der Fahrt in die Luft gesprengt. Ihr Mann liegt schwer verletzt im Krankenhaus. Seiner Beifahrerin musste ein Bein amputiert werden. Er stimmt einer Amputation nicht zu. Flieht in die Türkei. Muss dort nochmals operiert werden, bevor er Monate später zu seiner Frau und dem Sohn nach Deutschland weiterreisen kann.

Das alles ist nun fünf Jahre her. Die Kadres lernen Deutsch, werden von einem hilfsbereiten Starnberger Ehepaar in den Dingen des Alltags betreut. Doch in den Beinen von Jashar Kadre stecken noch viele Metallsplitter. Er geht schlecht, läuft die Schuhe extrem schnell ab und leidet nach wie vor unter Gedächtnisverlust. "Manchmal gehe ich los, um Milch zu kaufen und vergesse, dann, was ich wollte," erzählt er.

Zwei, drei Mal hat er eine Arbeit gefunden, nichts, was mit seinem Beruf zu tun hat, Aushilfsjobs in der Gastronomie, aber seine Beschwerden haben jedes Mal dafür gesorgt, dass er sehr schnell wieder ausgestellt wurde. Vor zwei Jahren bekommt das Paar noch einmal Nachwuchs. Zwillinge. Die beiden Mädchen sausen fröhlich durch die spartanisch eingerichtete Wohnung, die die Kadres mittlerweile in einem alten Haus bezogen haben. Ihr älterer Bruder besucht die vierte Klasse und spricht gut Deutsch. Er steht den Eltern als Übersetzer zur Seite, wenn ihnen die Worte fehlen. Als die Geschichte schlimm wird, schickt die Mutter ihn zum Lesen. Als einziger in der Familie hat er ein eigenes Zimmer. Es ist klein. Aber mit einem großen Bett und einem dazu passenden Schreibtisch ausgestattet. Die Möbel haben die Eltern eines Klassenkameraden bezahlt. "Wir haben so viele nette Menschen kennengelernt und soviel Hilfe erfahren", erzählt Sema Quasim gerührt. Und doch überfordern die Bedürfnisse des Alltags die Mittel der Familie.

Der Hortplatz kostet 108 Euro im Monat, die Kinderkrippe für die beiden Mädchen 120 Euro. Sie spart sich weder diese Kosten noch den einstündigen Weg in die Kinderkrippe. "Es ist wichtig, dass die Kinder mit anderen Kindern zusammen sind", ist sie überzeugt. Doch von vier Stunden Kinderbetreuung bleiben für sie gerade noch zwei kinderfreie Stunden. Auch vor dem ersten Schnee hat sie nun Angst. Die Mädels haben noch keine warme Winterbekleidung und die kleinen Räder des Zwillingsbuggies sind nicht für Schnee und Matschlagen geeignet. Eines ist ohnehin kaputt. Sie würde für den älteren Sohn gerne einmal neue Kleidung kaufen und demnächst benötigen sie für die Zwillinge zwei neue Kinderbetten.

Und wie gerne würden sie ihrem Sohn seinen sehnlichen Wunsch nach einem Tablet-Computer erfüllen. Selbst in der Grundschule werden mittlerweile Lese- oder Mathematikspiele zum Lernen empfohlen. Es ist schwierig zur Generation der Digital Natives zu gehören und keinen Zugang zu einem Computer zu haben. Hier beginnt Integration. Doch wo das Geld fehlt, ist Teilhabe am normalen Alltag selbst bei integrationswilligen Menschen wie den Kadres sehr schwer.

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