Stammtische wieder populär:Freundschaft - auch ohne Mausklick

Stammtische waren zeitweise verpönt, nun verzeichnen sie wieder Zulauf. Auch junge Menschen wollen nicht nur auf Facebook und Co. miteinander befreundet sein, sondern schätzen den direkten Austausch mit Gleichgesinnten. Ein Besuch im Münchner Hofbräuhaus.

Andreas Schubert

Der Stammtisch "Prinzregent" im Münchner Hofbräuhaus.

Der Stammtisch "Prinzregent" im Münchner Hofbräuhaus.

(Foto: Robert Haas)

Sechzig Jahre lang ist Ludwig Aidelsburger fast jeden Freitag ins Hofbräuhaus gekommen. Bis zu seinem Tod in diesem Frühjahr, er wurde 92 Jahre alt. Das Hofbräuhaus veröffentlichte damals einen Nachruf. Und noch immer erzählen sie an den Stammtischen mit Wehmut von dem Münchner Original, das seinen Freunden so lange die Treue gehalten hatte.

So lange kommen die Freunde vom Stammtisch Prinzregent noch nicht zusammen. Aber immerhin sitzen sie auch schon seit 13 Jahren jeden Freitag von 16 Uhr an im Salettl, einem Seitenflügel des Gasthauses, selbstverständlich in Tracht samt Gamsbarthut und ausgestattet mit einem eigenen Krug aus Steingut und Schnupftabaksdose.

"Jeder hat seinen festen Platz", erzählt Rudi Huber. Der pensionierte Berufsfeuerwehrler lässt das freitägliche Treffen selten ausfallen. Und während er Vorbeigehenden zuprostet, erklärt er kurz und knapp die Regeln des Stammtisches. "Politik und Frauen kommen bei uns nicht an den Tisch", sagt er. Bei beidem komme nichts Gescheites heraus. Der Klassiker unter den Stammtischwitzen - aber er sagt einiges aus über das Wesen so einer Runde.

Es geht um Gaudi, Entspannung und Abwechslung vom Alltag. Um Männerfreundschaft und gepflegtes Trinken. Streit ist fehl am Platz, entsprechend zünftig geht es bei den Prinzregentlern zu. Und weil sie in ihrem Ornat gar so malerisch bayerisch wirken, kommt es nicht selten vor, dass die Männer als Fotomodelle für Besucher aus dem Ausland herhalten müssen.

120 Stammtische gibt es im Hofbräuhaus. Nirgendwo sonst in München wird diese Kultur so aktiv gepflegt wie hier. Jeden Monat gründen sich ein bis zwei neue Runden. Und natürlich gibt es auch Stammtische, zu denen Frauen kommen, die 100 zum Beispiel, der Taxi-Stammtisch oder Unser Zwoate Hoamat. Dabei gab es eine Zeit, in der Stammtische nicht gerade als schick galten. In den neunziger Jahren wollten sich immer weniger in einem Wirtshaus zum Ratsch treffen, was zunächst nicht verwundert: Weckt doch allein das Wort Stammtisch allerlei negative Assoziationen.

Bei verbalen Tiefschlägen spricht man von Stammtischniveau, dumpfe Polit-Sprüche gelten als Stammtischparolen, mit denen sich Stammtischpolitiker die Lufthoheit über den Stammtischen sichern wollen. An den Vorurteilen mag manchmal etwas Wahres dran sein. Doch offenbar wollen viele heute davon nichts mehr wissen. Gerade in Zeiten von Facebook und Co., in denen es nur einen Mausklick kostet, "Freundschaften" zu beginnen oder zu beenden, erkennen wieder mehr Menschen, dass das direkte Treffen mit Gleichgesinnten durch nichts zu ersetzen ist. So sieht es auch Wolfgang Sperger, der zusammen mit seinem Bruder Michael 2004 das Wirtshaus von den Eltern übernommen hat. "Es kommen wieder mehr Jüngere, so zwischen 25 und 40 Jahren", sagt er.

Jam-Session jeden Montag

Viele Stammtische setzten sich aus Berufsgruppen zusammen - seien es Gärtner, Postler oder Medienmenschen. Sie alle haben etwas gemeinsam, genauso wie andere traditionsreiche Stammtische mit so urigen Namen wie Wuide Rund'n, Wolperdinger oder Aloisius: Es geht um Regelmäßigkeit. Wie wenig manche Gäste dabei Veränderung schätzen, verdeutlicht Wolfgang Sperger mit einer Anekdote. "Vor zwei Jahren haben wir den Boden reinigen lassen, die Tische rausgeräumt und ein paar davon später an den falschen Platz gestellt", erzählt er. "Es hat nicht lange gedauert, bis sich der erste Gast beschwert und gefragt hat: Wo ist mein Tisch?"

Dass nicht immer nur getrunken und geratscht wird, zeigt etwa der Musikantenstammtisch, der sich im Bräustüberl des Hofbräuhauses trifft. Hier kommen Kapellen und Musikanten aus München und Musikanten aus ganz Europa zusammen. Und je nach Programm und Motivation der Akteure geht es hier schon mal bis in die Morgenstunden ausgelassen zu. "Großartig", findet das Ian Chapman, Musiker aus dem englischen Birmingham. Er schaut einmal im Monat vorbei, traditionelle Tänze wie Zwiefacher haben es ihm angetan.

Dabei kannte er bis vor drei Jahren von Bayern gerade mal das Oktoberfest. Von alpenländischer Volksmusik hatte der studierte Komponist bis dato keine Ahnung. Heute kommt er in Lederhose und Trachtenhemd zur bayerisch-internationalen Jam-Session, packt seine Tuba aus und legt zusammen mit anderen Gleichgesinnten los. Wie gut und lustig das klingen kann, ist jeden ersten Montag zu hören.

Aushängeschild für die Touristen

Für die Wirte eines Gasthauses, das an manchen Tagen von trinkfreudigen Touristen regelrecht überlaufen ist, sind die Stammtische und Musikrunden ein wichtiges Aushängeschild, das auch einen gewissen Werbeeffekt hat. "Das sind unsere Botschafter", sagt Sperger. "Wenn jemand aus Dresden oder Mailand oder sonstwo kommt, schaut er sich das Hofbräuhaus an, und die Stammgäste erklären ihm dann: Das ist unsere Kultur." Für ihn und seinen Bruder gehört es deshalb auch dazu, die Stammgäste zu halten, regelmäßig an den Tischen vorbeizuschauen und ein paar Worte zu wechseln. Im Oktober werden sämtliche Runden zu einem Gansessen eingeladen. So profitieren beide Seiten, überdies zahlen registrierte Stammgäste mit sogenannten Bierzeichen statt mit Geld. Und bekommen pro Zehn Maß eine geschenkt.

Eine Marketingmaßnahme, die zieht: 3400 Stammgastkarten sind derzeit vergeben, wer eine bekommen will, sollte von einem anderen Gast empfohlen werden. 616 von den regelmäßigen Gästen besitzen eigene Maßkrüge aus Steingut, von denen einige schon älter als 100 Jahre sind und deren Deckel noch die Prägung "Königlich Bayerisch" tragen.

Wer so einen Krug vor sich stehen hat und den Zinndeckel offen lässt, muss nicht lange warten und die Bedienung lässt ihn gegen Entrichtung eines Bierzeichens wieder füllen. Ein Ritual ohne Worte, das vielen Stammtischlern wichtig ist. Bis man aber einen Schlüssel zum schmiedeeisernen Maßkrug-Safe bekommt, dauert es zirka drei bis fünf Jahre. "Es gibt eine Warteliste", sagt Sperger.

Die Maßkrüge sind wertvoll. Und der von Ludwig Aidelsburger ist immer noch im Safe, als ob er jeden Moment durch die Tür spazieren, das Schloss aufsperren und sich zu seinen Freunden von der Wuidn Rund'n gesellen würde. Fremden zeigen die Eingeweihten gerne beinahe mit Ehrfurcht den Zinndeckel, auf dessen Innenseite geprägt ist: Stammgast seit 1949.

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