Süddeutsche Zeitung

Städteplanung:Nachverdichten bis zur Schmerzgrenze

  • Obersendling befindet sich in einem grundlegenden Umbruch - es wird gebaut und in der Regel heißt es: Wohnen schlägt Gewerbe.
  • Auch im übrigen Münchner Südwesten verschwinden Industrie, Frei- und Lagerflächen, an mancher Stelle wird bis zur Schmerzgrenze verdichtet.

Von Jürgen Wolfram, Obersendling

Der Wandel währt schon Jahre, und ein Ende ist nicht absehbar, ganz im Gegenteil: Im gesamten Münchner Südwesten läuft derzeit ein Transformationsprozess richtig heiß. An seinem Ende wird unterm Strich ein Schwund an Industriebetrieben, Frei- und Lagerflächen zu konstatieren sein, ebenso wie eine exorbitante Zunahme an Wohnraum. Das ist in Fürstenried so, wo bis zur Schmerzgrenze nachverdichtet werden soll. Das betrifft Thalkirchen, das mit seinem schicken Neubaugebiet "Isargärten" renommiert und weiterer Urbanisierung harrt.

Selbst die einstigen Dörfer Solln und Forstenried können sich dem Sog des Versiegelns letzter Baulücken nicht entziehen. Und doch wirkt die Entwicklung dieser Viertel im Vergleich zu dem, was sich in Obersendling abspielt, wie Kosmetik. "Obersendling zählt mit Sicherheit zu den spannendsten Münchner Stadtteilen." Das sagt nicht nur Hans Bauer, der 41 Jahre lang dem Bezirksausschuss angehörte. Das sagt südlich des Harras so ziemlich jeder Beobachter - nicht selten mit kritischem Unterton.

Umwälzend in Bewegung gerät Obersendling schon kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Ehedem ein klassisches Arbeiterviertel mit Klitschen und mittelgroßen Betrieben, Wohngenossenschaften und sozialdemokratischer Grundfärbung, verpasst eine Firma von Weltgeltung dieser südlichen Stadtecke ein völlig neues Gesicht: Siemens, damals auf Abwanderung aus der geteilten Hauptstadt, siedelt sich dort an und dominiert jahrzehntelang das Geschehen. Allein am Standort Hofmannstraße - und es existierten in der Umgebung noch jede Menge andere Stützpunkte des Konzerns - gehen 30 000 Beschäftigte des Unternehmens ihrer Arbeit nach.

Viele von ihnen wohnen in der Werkssiedlung nordwestlich des Ratzingerplatzes, zu erkennen an den Sternhäusern. Mitten drin, an der Leo-Graetz-Straße, wächst Jochen Böing auf. Besuch der Grundschule an der Boschetsrieder Straße, Lieblingsspielplatz der nahe Südpark, Vater Siemens-Ingenieur - ein typischer Junge aus dem Obersendling der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Eher Junge als Bub, denn in der Nachbarschaft stammen die meisten Spielgefährten aus Berlin. "In Obersendling ist Siemens damals allgegenwärtig gewesen, kaum zu zählen die Leute, die mit der Firma irgendetwas zu tun hatten", erinnert sich der heute 64-Jährige.

Als Jugendlicher genoss Böing ein Privileg, von dem er noch heute begeistert erzählt: Fußballspielen durfte er mit seinen Freunden im Siemens-Sportpark. Das war nicht allen Kindern des Münchner Südens vergönnt. Aber womöglich ändern sich die Regeln bald, denn die Stadt ist drauf und dran, das verfallende Sport- und Erholungsgelände zu übernehmen.

Die Siemens-Herrlichkeit, sie dauert bis weit in die Neunzigerjahre. Als sie ausklingt, ist von der Proletarier-Hochburg der Frühzeit schon lang nichts mehr übrig. Der mit Sozialleistungen umsorgte Siemens-Angestellte prägt das Bild, solider Mittelstand. Doch nichts bleibt dauerhaft so, wie es ist, auch wenn das viele Siemensianer gern geglaubt hätten. Als der Firmenriese den geordneten Rückzug antritt, schwebt plötzlich ein großes Fragezeichen über der Gegend zwischen Boschetsrieder Straße und Siemensallee, Wolfratshauser Straße und Drygalski-Allee: Was soll nur werden aus dem Stadtteil, wenn der Weltkonzern weg ist?

Die Antwort ist längst gegeben. Auf die Blüte der beschäftigungsintensiven Elektro-Ökonomie folgt an allen Ecken und Enden der Siemens-City ein Boom des Wohnungsbaus. Schon vollendet: die "Südseite" mit ihren fünf Wohntürmen an der Baierbrunner Straße. Bis zu 16 Stockwerke hoch, vom Bauherrn gepriesen als "Sternenhimmel". Bereits detailliert in Planung sind Lofts im ehemaligen Siemens-Hochhaus sowie der Campus Süd, inzwischen auch als "Hofmannhöfe" annonciert, an der Hofmannstraße. Wohnriegel und "Hochpunkte" sollen den ehemaligen Büropark ablösen.

Die Maßeinheit für diese und ähnliche Projekte, etwa auch auf dem ehemaligen Eon-Gelände an der Drygalski-Allee, "Am Südpark", heißt: tausend Wohneinheiten und mehr. Oder 3000 Neubürger und mehr. Kein Wunder, dass der Stadtbezirk, in dem Obersendling liegt, rasant auf die 100 000-Einwohner-Marke zusteuert. Und dass der amtierende Bezirksausschuss-Vorsitzende Ludwig Weidinger (CSU) vom Rathaus fordert, nicht nur den Wohnungsbau im Auge zu haben. "Wir brauchen hier weiterhin auch Gewerbe", gab Weidinger bei der jüngsten Bürgerversammlung den Emissären der Kommunalverwaltung mit auf den Weg. Die Meglingerstraße und Machtlfinger Straße kann er freilich nicht gemeint haben. Dort floriert bereits neues Gewerbe aller Art - von Aldi bis zum Autohaus, vom Baumarkt bis zum Bordell.

Schon rücken die nächsten Brennpunkte der Umgestaltung Obersendlings in den Blick, wie der Großparkplatz an der Gmunder Straße oder die Keuzung Zielstattstraße/Hofmannstraße mit ihren pilzartig hochschießenden City-Hotels. Vor allem aber hält die Gegend um den Ratzingerplatz die Planer auf Trab. In ihrem Herzen derzeit noch eine Ödnis von frappierender Hässlichkeit, soll es hier in absehbarer Zeit mächtig zur Sache gehen.

Eine Art Masterplan für das 13,2 Hektar große Areal nennt die Eckpunkte und Prioritäten: Ganz oben stehen der Neubau eines Gymnasiums an der Gmunder Straße sowie einer Grundschule an der Boschetsrieder Straße und diverse Kitas, Fertigstellung möglichst bis 2021. Denn das stürmische Bevölkerungswachstum erzeugt Druck auf die schulische und soziale Infrastruktur. Gegenüber, auf der anderen Seite der Boschetsrieder Straße, soll die Feuerwehr- und Rettungsdienstschule erweitert und dafür der Sparkassen-Bau geopfert werden. Auch dafür wird es höchste Zeit.

Auf der städteplanerischen To-do-Liste steht ansonsten ein deutlich vergrößertes Parkdeck über der U-Bahnstation und dem Busbahnhof Aidenbachstraße. Und natürlich der Umbau des Ratzingerplatzes selbst. Durch einen neuen Zuschnitt der Fahrbahnen soll Platz gewonnen werden für eine Promenade mit Läden und Wohnungen. Münchens Rockbands dürften schon jetzt um die schönen Übungsräume im ehemaligen Wartehäuschen weinen, das dann keinen Platz mehr hat. Als Knotenpunkt nicht nur des Individual-, sondern auch des Schienenverkehrs könnte der "Ratz" eine Renaissance erleben, wenn die Tram-Westtangente verwirklicht wird.

Schließlich drehen sich die Überlegungen von Kommunalpolitikern, Fachbehörden und Architekten um die Zukunft der Zeppelinhalle. Dieses industriedenkmalartige Baujuwel, in dem nie Zeppeline gefertigt worden sind, soll in fernerer Zukunft als zentraler Quartiersplatz reüssieren. Manche träumen schon von einer Szene aus Gastronomie, Volkshochschule, Kulturstätte und Flaniermeile. Dafür müsste jedoch erstmal ein Ersatzstandort für den benachbarten städtischen Betriebshof gefunden werden. Alles in allem aber wird klar: Es ist weit mehr als ein Gesichtslifting, was an Veränderungen rund um den Ratzingerplatz in Gang kommt. Obersendling erfindet sich in seinem Kern völlig neu.

Dabei kämpft das Viertel mit einem Image-Problem: Es gilt vielen Münchnern als unwirtlicher Verhau aus Wohn- und Gewerbegebieten, als wuchernder Mischgebietsdschungel. Tatsächlich trifft dies nur noch punktuell zu, etwa in jenem Bereich der Hofmannstraße, in dem gegenwärtig das neue chinesische Generalkonsulat entsteht, oder entlang der Tölzer Straße. Andernorts kleidet sich der Nutzungsmix in ansprechend moderne Architektur. Gute Beispiele sind die Bürowelten der High-Tech-Unternehmen im Bereich nördliche Aidenbachstraße, Kistlerhofstraße und Seumestraße, jeweils mit properen Wohnquartieren gleich nebenan.

Zum anderen verstecken sich in dem Stadtteil Wohnstraßen, die sich von jenen im benachbarten Solln nicht wesentlich unterscheiden. Wer etwa im Karree zwischen Leutstettener Straße und Lochhamer Straße daheim ist, genießt das Flair einer Gartenstadt.

Den meisten Obersendlingern ist die Außensicht auf ihr Viertel ohnehin egal. So wie Marianne und Anton Hees. Das Ehepaar wohnt seit 41 Jahren an der Murnauer Straße, und das in voller Zufriedenheit. Verkehrsanbindung und Versorgungslage seien exzellent: "Jede Art von Geschäft oder Restaurant ist mühelos zu Fuß zu erreichen, in fünf Minuten geht man zum Bus, in zehn Minuten zur U-Bahn. Das ist optimal." Zudem sei es so ruhig, dass man den Balkon jederzeit nutzen kann. Klingt nicht so, als hätte Obersendling im Zuge des Baubooms seine Attraktivität eingebüßt.

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SZ vom 24.05.2017/infu
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